Wann drohen Schlaganfälle, wenn der Vorhof spinnt? Nicht immer jedenfalls. Bei einer großen Kardio-Studie fällt die Blutverdünnung jetzt überraschend durch. Was heißt das für euch?
Wenn der Vorhof flimmert, wird antikoaguliert. Das ist, Pi mal Daumen, die Leitlinienregel. Etwas präziser formuliert empfiehlt die derzeit gültige ESC-Leitlinie bei Menschen mit Vorhofflimmern immer dann eine orale Antikoagulation, wenn der das individuelle Risiko abschätzende CHA2DS2-VASc Score bei Männern mindestens 1 und bei Frauen mindestens 2 beträgt. Da die allermeisten Menschen mit Vorhofflimmern nicht mehr ganz jung und nicht mehr ganz gesund sind, ist dieses Kriterium nur in Ausnahmefällen nicht erfüllt.
Eine andere Frage ist, wann eigentlich genau Vorhofflimmern vorliegt. Blöde Frage – steht doch auf dem EKG? Jein. Erfüllt jede beliebig kurze Flimmerepisode die Leitlinienkriterien für den Beginn einer Antikoagulation? Reicht jedes beliebige EKG bzw. jede beliebige EKG-artige Aufzeichnung? Die ESC-Leitlinie hilft hier theoretisch weiter: Sie definiert Vorhofflimmern als mindestens 30 Sekunden Flimmern, aufgezeichnet mit einem 12-Kanal-EKG. Die Realität spiegelt das freilich nur sehr bedingt wider. Ein Therapiebeginn auf Basis von Ein-Kanal-EKG-Streifen, zum Beispiel der Apple Watch, ist längst keine Seltenheit mehr.
Überhaupt Devices: Wie sieht es eigentlich mit vorhofflimmerähnlichen Vorhoftachykardien aus, die mit implantierbaren Devices aufgezeichnet werden? Auch das ist angesichts der hohen Verbreitung von Schrittmacher, ICD und Co. eine ziemlich relevante Frage. Gesprochen wird in diesem Zusammenhang nicht von Flimmern, sondern von atrialen Hochfrequenz-Episoden, kurz AHRE. Bisher galt: Wer in den Device-Aufzeichnungen Hinweise auf längere AHRE aufweist, der ist ein Kandidat für eine Antikoagulation. Daten gab es dafür aber bisher nicht.
Jetzt gibt es sie – und sie fielen anders aus, als erwartet. Bei der Jahrestagung der europäischen Kardiologen in Amsterdam stellte Prof. Paulus Kirchhof vom Universitären Herz- und Gefäßzentrum Hamburg die NOAH-AFNET-6 Studie vor, eine randomisierte, kontrollierte Studie des Deutschen Kompetenznetz Vorhofflimmern. Die Studie wurde im New England Journal of Medicine publiziert.
An der Studie nahmen insgesamt 2.536 Patienten mit per implantierbarem kardialem Device dokumentierten AHRE teil. Es gab dabei keine obere Grenze für die AHRE-Dauer. Einige Patienten hatten tagelange, andere sogar mehrere Wochen dauernde AHRE-Episoden. Im Median betrug die dokumentierte AHRE-Dauer 2,8 Stunden. Die Patienten waren im Mittel 78 Jahre alt und waren ausnahmslos – da Device-Träger – kardial vorerkrankt. Bei Nachweis von AHRE wurde randomisiert zu entweder oraler Antikoagulation mit Edoxaban oder Placebo. Der mittlere Follow-Up-Zeitraum betrug 21 Monate. Primärer Endpunkt war der klassische, „harte“ Vorhofflimmerstudien-Endpunkt aus Schlaganfällen, systemischen Embolien oder kardiovaskulärem Tod.
Und in diesem Endpunkt gab es entgegen allen Erwartungen keinen statistisch signifikanten Unterschied. In der Edoxaban-Gruppe betrug das Risiko für ein Ereignis gemäß primärem Endpunkt 3,2 % pro Jahr, gegenüber 4,0 % in der Placebogruppe (HR 0,81; 95 % KI: 0,60–1,08; p=0,15). Insgesamt gab es 83 Ereignisse in der Edoxaban-Gruppe, davon 22 Schlaganfälle, und 101 Ereignisse in der Placebo-Gruppe, davon 27 Schlaganfälle. Einen Unterschied gab es bei den Sicherheitsereignissen. Schwere Blutungen oder Todesfälle traten bei 149 Patienten in der Edoxaban-Gruppe, aber nur bei 114 Patienten in der Placebogruppe auf. Das war statistisch signifikant (p=0,03). Wurden schwere Blutungen separat ausgewertet, war der Unterschied mit 53 versus 25 Ereignissen noch etwas größer.
Das Ergebnis sei „unerwartet“, so Kirchhof in Amsterdam: „NOAH-AFNET-6 zeigt, dass bei Patienten mit AHRE keine Antikoagulation eingesetzt werden sollte, solange nicht Vorhofflimmern per EKG nachgewiesen ist. Der Anstieg der Blutungen ist mit allen Antikoagulanzien zu erwarten.“ Tatsächlich stellt die NOAH-AFNET-6 Studie eine Frage, die deutlich über die eigentliche Studienfrage hinausgeht, nämlich die Frage nach dem genauen Zusammenhang zwischen Vorhofrhythmusstörungen und Schlaganfällen.
Die mechanistische Hypothese ist, dass das Vorhofflimmern über quasi „stehende“ Vorhofwände die Thrombenbildung insbesondere im linken Vorhofohr begünstigt, und dass diese Thromben dann Emboli ins Gehirn streuen. Bei dieser Hypothese gab es schon immer einige Fragezeichen. So lässt sich bei Vorhofflimmer-assoziierten Schlaganfällen oft kein Thrombus nachweisen. Intermittierendes Vorhofflimmern ist mit ähnlich hohem Schlaganfallrisiko assoziiert wie permanentes Vorhofflimmern, was bei einer rein thrombomechanischen Pathophysiologie zumindest erklärungsbedürftig ist.
Und jetzt kommt auch noch die NOAH-AFNET-6 Studie, die in einer Situation, die dem Vorhofflimmern hämodynamisch extrem ähnlich ist, kein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle und entsprechend auch keine Schutzwirkung der Antikoagulation findet. „Durch die NOAH-AFNET-6 Studie ändert sich, wie wir über die Pathophysiologie des Vorhofflimmerns denken“, sagte Prof. Martin Halle, Sportkardiologe an der Universität München, im Rahmen eines Pressegesprächs in Amsterdam. Die spannende Frage ist natürlich, wie genau die bisherige Hypothese für das Entstehen vorhofflimmerassoziierter Schlaganfälle modifiziert werden muss. Darauf gab es (noch) keine Antwort, aber irgendetwas wird da noch nicht so richtig verstanden, so viel steht fest.
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