Ob Weihnachten, Ostern oder ein gewöhnlicher Sonntag – die Notambulanzen und der ärztliche Bereitschaftsdienst sichern einen wichtigen Teil der Gesundheitsversorgung. 2022 stiegen die Fallzahlen auf ein neues Post-Corona-Hoch.
Die Gesamtzahl der ambulanten Notfallbehandlungen ist seit Erfassung der Daten 2018 stark volatil – insbesondere mit Blick auf die Unterscheidung von Krankenhausfällen oder Behandlungen durch den ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD). Einen Knick verzeichnete die Kurve zuletzt im Corona-Jahr 2020. Nach einem Tiefstand von 9,4 Millionen Fällen in 2020 (gegenüber 10,9 in 2019) waren es ein Jahr später bereits wieder 9,8 Millionen Behandlungen. In 2022 stieg die Zahl erneut an: Laut Auswertungen des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung (ZI) ging das Mehr an Behandlungen dabei insbesondere aufs Konto des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Für den ÄBD machten die Statistiker einen Zuwachs von 22 % gegenüber dem Vorjahr aus. Konkret sind das 1.258.573 Behandlungen. Dazu kommen 972.382 Notfälle, die in den Notaufnahmen der Krankenhäuser aufliefen. Die in der Auswertung vorgestellten Zahlen des ZI beziehen sich auf den Zeitraum Januar 2021 bis Dezember 2022.
Notfall-Spitzenreiter ist dabei der feiertagsvolle Dezember, an dem 46 % mehr Fälle vom ÄBD übernommen wurden als noch im Vorjahr. „Allein im Spitzenmonat Dezember 2022 haben die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte fast 830.000 Notfälle ambulant versorgt. In den Notaufnahmen der Kliniken waren es in diesem Monat hingegen lediglich gut 770.000 Patientinnen und Patienten. Von diesen entfielen 62 Prozent, also rund 477.000 auf die Zeiten des Bereitschaftsdienstes“, sagt Zi-Vorstandsvorsitzender Dr. Dominik von Stillfried.
Dass die Zahlen für den Dezember dabei besonders hoch sind, mag wenig verwundern. Die abgelegte Vorsicht aus Corona-Zeiten geht hier mit besonders vielen Feiertagen sowie einer jahreszeitlich typisch hohen Zahl an Infektionserkrankungen einher. „Die starke Zunahme der Atemwegserkrankungen in der zweiten Jahreshälfte 2022 spiegelt sich vor allem in der Inanspruchnahme des ärztlichen Bereitschaftsdienstes wider. Mit ihrem Engagement haben die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie deren Praxisteams auch die Notaufnahmen der Kliniken entlastet. Dort nahm die Fallzahl gegen Jahresende nicht vergleichbar zu. Die von uns aktuell ausgewerteten Abrechnungsdaten belegen die wichtige Rolle des ärztlichen Bereitschaftsdienstes im System der Notfallversorgung“, betont Stillfried die Leistung des ÄBD.
Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi):Entwicklung der ambulanten Notfälle im ärztlichen Bereitschaftsdienst und in den Notaufnahmen der Krankenhäuser (1. Quartal 2021 bis 4. Quartal 2022)
Der ZI-Vorsitzende geht damit erneut auf die Bedeutung des ÄBD ein, dessen Entwicklung er bereits zu Beginn des Jahres herausstellte. Wichtig sei bei all den Zahlen, dass man diese nicht losgelöst vom System betrachte. Denn die auf Grundlage von Abrechnungsdaten basierenden Zahlen umfassen dabei nicht die Leistungen der Ärzte, die nicht über den EBM abgerechnet werden. Oftmals würden die Notbehandlungen über pauschale Stundensätze abgerechnet. Darüber hinaus sei „zu beachten, dass im ärztlichen Bereitschaftsdienst in den letzten Jahren in vielen Kassenärztlichen Vereinigungen ein telemedizinischer Bereitschaftsdienst, also eine telefonische Beratung oder eine Videosprechstunde, eingeführt worden ist. Dieser wird nicht über den Einheitlichen Bewertungsmaßstab abgerechnet.“
Dass Patienten den ÄBD den Klinik-Notaufnahmen vorziehen, bestätigten auch Zahlen des Robert-Koch-Instituts, das von niedrigeren Nutzungszahlen der Notambulanzen im Krankenhaus gegenüber den Niedergelassenen ausgeht. Demnach seien Engpässe in der Behandlung eher auf Personalnot, denn auf stark steigende Gesamtzahlen zurückzuführen.
Doch die grundlegende Problematik hinter den Zahlen ist kein Kompetenz- oder Leistungsgerangel. Viel eher geht es darum, Strukturen zu finden, die die gegebenen Ressourcen optimal ausnutzen und dabei bestmögliche Gesundheitsversorgung gewährleisten. Nicht umsonst ist der Umbau der Akut- und Notfallversorgung einer von vielen aktuellen Reformvorhaben des BMG.
Wie der ÄBD derweil die überlasteten Kliniken unterstützen könnte, erklärt Stillfried: „Die Inanspruchnahme der Krankenhausnotaufnahmen durch weniger schwere Fälle kann noch weiter konsequent reduziert werden. Neben dem Ausbau der Bereitschaftspraxen wird in vielen Kassenärztlichen Vereinigungen ein telemedizinischer Bereitschaftsdienst, also eine telefonische Beratung oder Videosprechstunde eingeführt. Hier sind weitere Anwendungen denkbar, um Hilfesuchende schnell und sicher zu beraten oder ihnen ein angemessenes Versorgungsangebot zu vermitteln. Zudem ist es möglich, einen großen Teil der in Notaufnahmen selbständig Hilfesuchenden während der Praxisöffnungszeiten in geeignete Praxen weiterzuleiten. Auch hier bieten Kassenärztliche Vereinigungen den Kliniken Unterstützung an. Aber diese neu geschaffenen Strukturen sind kostenintensiv und werden zu einem hohen Anteil aus den Beiträgen bezahlt, die die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte als Verwaltungskosten an die Kassenärztlichen Vereinigungen entrichten. Dies ist nicht sachgerecht und ohne adäquate Gegenfinanzierung vielerorts auch nicht aufrechtzuerhalten. Die Politik muss daher jetzt dringend bessere finanzielle Voraussetzungen für diesen vernachlässigten Teil der Notfallversorgung schaffen.“
Eben diese politischen und finanziellen Grundlagen befinden sich dabei mitten in einem Prozess, der von ärztlicher Seite unter Beschuss genommen wird. Zentrale Elemente wie die Etablierung von INZ, Vernetzung von IT und der Patientensteuerung bzw. einer zentralen einheitlich geltenden Ersteinschätzungs-Richtlinie seien zwar gut und richtig gedacht, müssten aber in ihrer gegenwärtigen Form noch einmal überarbeitet werden.
So fordert die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dass die Ersteinschätzungs-Richtlinie des G-BA ausgesetzt wird und unter anderem durch eine Sonderreglung für die Vorhaltung eines Facharztes gefunden werde. Insgesamt „ist weder ein klarer Mehrwert noch eine mögliche Verbesserung der Akutversorgung oder eine bedarfsgerechte Steuerung von Notfallpatienten erkennbar“, erklärt DIVI Präsident Prof. Felix Walcher.
Doch es ist auch kein einheitlicher Kampf von Ärzten vs. Politik. Auch unter den Ärzten besteht noch keine Einigkeit, wie man die Notfallversorgung entlasten könnte. Der jüngste Aufreger kam dabei von Seiten der Kinderärzte, die ihrerseits ein besonders hohes Notfall-Aufkommen verzeichnen. So hielt Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), eine finanzielle Beteiligung der Eltern für denkbar: „Die Notfallversorgung muss auf Notfälle konzentriert werden und nicht für die Pickel am Po der Kinder, für die die Eltern unter der Woche keine Zeit haben und mit denen man dann am Wochenende beim Notdienst aufschlägt. Für solche Fälle hielte ich eine Eigenbeteiligung der Versicherten für absolut sinnvoll.“ Erst wenn retrospektiv entschieden werde, dass es sich wirklich um einen Notfall gehandelt habe, solle die Gebühr erstattet werden.
Einen ähnlichen Vorschlag machte auch Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Er hatte sich für die Einführung einer Notfallgebühr für alle Personen ausgesprochen, die ein Krankenhaus aufsuchen, ohne zuvor eine Leitstelle kontaktiert zu haben. „Wer noch selbst in eine Notaufnahme gehen kann, ist oft kein echter medizinischer Notfall“, sagte Gassen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Kritik und Einschränkungen kamen derweil von der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie dem GKV-Spitzenverband. „Wenn wir über Sanktionierungen sprechen, müssen zuerst einmal die Bedingungen erfüllt sein, die gewährleisten, dass alle Patientinnen und Patienten in einer Notfallsituation ideal beraten und gesteuert werden: Eine medizinische Ersteinschätzung durch die Integrierten Leitstellen der Telefonnummern 112 und 116117, kurzfristige Terminvermittlung in umliegenden Arztpraxen und auch unmittelbare Hausbesuche durch den KV-Notdienst sind für die Patienten wichtige Voraussetzungen für eine gute ambulante Notfallversorgung jenseits der Krankenhausnotfallambulanzen. Erst wenn diese Voraussetzungen durch die zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen geschaffen sind, kann man darüber nachdenken, ob man von den Patientinnen und Patienten eine Art Strafgebühr erhebt, die diese Beratung und Steuerung ignorieren und den direkten Weg in die Notfallambulanzen suchen. Wer ohne vorherige Beratung und trotz angebotener alternativer Behandlungsoptionen dennoch eine Notaufnahme aufsucht, ohne dass ein Notfall vorliegt, kann dann tatsächlich sanktioniert werden“, betont Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft.
Wann und wohin sich Strukturen und Fallzahlen entwickeln, wird sich in den kommenden Monaten zeigen – ob die politische Entscheidungsfindung schneller ist als die nahenden Infektions- und „Notfall“wellen, bleibt abzuwarten.
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