Der schwerste Moment beim Überbringen einer Todesnachricht ist das Klingeln an der Haustür. Ich drücke damit die Pausentaste für das Leben der Menschen, die hinter der Tür warten. Zwei Situationen aus meinem Rettungsdienst-Alltag.
Das Schlimmste an der Krisenintervention ist für mich nicht der Tod des Patienten, sondern die Angehörigen. Ihr Kummer, ihre Verzweiflung, ihre Ohnmacht – all das wälzt sich auf mich nieder, als würden sie mich erdrücken wollen. Die Angehörigen projizieren ihre Qualen auf mich und es fällt mir schwer, die Kontrolle darüber zu bewahren. Zusätzlich ist da auch das Schweigen, das bedrückt. Die Stille, die mit Trauer erfüllt ist, kann lauter sein als jeder Schrei. Man muss aber schweigen können und diese Stille aushalten, denn wenn man nicht dazu in der Lage ist, behindert man bei seinem Gegenüber die Gedankenarbeit um das Unglück.
Und so sitze ich nun hier spät abends am herbstlichen Bahnübergang im Rettungswagen. Diesmal bin ich nicht hier, um als Notfallsanitäter Verletzte zu versorgen, sondern um eine Lücke zu füllen, bis die Experten vom Kriseninterventionsteam eintreffen. Nebelschwaden ziehen über das Gleis, als wollten sie die Spuren all der Tragödien verwischen, die sich hier abgespielt haben. Ein Lichtkegel durchbricht die Dunkelheit. Es ist ein Strahl vom Lichtmast der Feuerwehr, der den Bahndamm ausleuchtet und ein schmales Band auf das Gesicht des Mannes wirft, der soeben sein ganzes Leben in den Abgrund gestürzt sieht. Seine waldgrünen Augen sind erstarrt und fixieren einen Punkt jenseits meiner Existenz. Ich frage mich, was er in diesem Moment denkt, was er von mir erwartet. Wie kann ich ihm nur helfen?
Seine Finger zucken nervös an den Enden seiner Jacke, während ich in seinem Gesicht nach Antworten suche. Der Mann Mitte 60, grau meliertes Haar wie eine römische Tonsur, hatte vor nicht allzu langer Zeit noch ein gewöhnliches Leben mit seiner Frau in einer kleinen Münchner 2-Zimmer-Wohnung geführt. Ihre Perlenhochzeit hatten sie schlicht im Lieblingsrestaurant verbracht, ohne großes Tamtam. In zwei Jahren wäre er in Rente gegangen, und dann wollten sie gemeinsam in ihrem Wohnmobil Schweden und Dänemark erkunden. Seine Augen finden die meinen und nach einem Augenblick, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt, beginnt er zu sprechen. Ein Lichtkegel wie ein Moment der Offenbarung.
Meine Gedanken zerfließen. Ich kann mich nicht konzentrieren, aber der Mann scheint nichts davon zu merken. Szenen blitzen mir von jenem Tag auf, an dem wir einen sehr schweren Verkehrsunfall auf einer zweispurigen Bundesstraße abgearbeitet hatten. Einer der fünf jungen Menschen aus dem Wagen, den dessen Fahrer während eines Überholmanövers auf dem Weg zur Berufsschule in den Gegenverkehr schleuderte, war unsere siebzehnjährige Patientin Maja. Sie starb an der Unfallstelle auf dem sommerwarmen Asphalt direkt neben unserem Rettungswagen, ohne je eine realistische Chance gehabt zu haben. Die Polizei bat uns angesichts unserer Nähe zum Einsatz um Unterstützung dabei, den Eltern die Nachricht ihres Todes zu überbringen. Zu diesem Zeitpunkt war dies nicht ungewöhnlich, da zwar eine Kriseninterventionseinrichtung existierte, diese jedoch nicht verfügbar war. Da stand ich nun mit meiner Kollegin und den beiden Polizisten und bewegte meinen Finger zur Klingel. Mein Herz polterte.
Der schwerste Moment beim Überbringen einer Todesnachricht ist für mich der Moment, an dem ich die Klingel an der Haustür drücke. Dann schellt die Glocke. Sie fühlt sich an wie ein Stich ins Herz, und ich weiß, ich kann jetzt nicht mehr zurück. Wo platze ich jetzt hinein? Wer sind diese Leute? Sind auch Kinder da? Zwei Stimmen riefen durcheinander – ein Mann und ein junges Mädchen, vermutlich Vater und Schwester unserer Patientin. Dann trappelten Schritte auf die Tür zu. Ein Hund bellte, eine Frau direkt hinter der Tür hieß ihn ruhig zu sein, es auch zu bleiben und ins Wohnzimmer zu verschwinden. Dann klickte die Tür und öffnete sich mit einem Ruck. Die Frau starrte uns einige Sekunden an, als hätte jemand die Pausetaste gedrückt. Erst nach einigen Sekunden sagte ich etwas. „Haben Sie eine Tochter, die Maja heißt?“ Sie nickte. Dann bat ich sie um Einlass. Sie zog die Tür ganz auf, und als ich an ihr vorbeiging, wusste ich, dass das bisherige Leben dieser Familie in diesem Moment wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzt.
Und jetzt, einige Jahre später, hat uns wieder die Polizei angefordert an jenem Bahnübergang, der eine breite Hauptstraße quert. Der Mann, der nun als mein Patient vor mir im RTW sitzt, hatte mit seiner Frau einen ausgedehnten Waldspaziergang gemacht. Die beiden wollten nun zur angrenzenden Bahnstation und dann einen schönen Abend vor dem Fernseher verbringen. Aber die Frau hatte ein dringendes Bedürfnis zu erledigen. „Warte kurz. Ich geh schnell in die Büsche, denn bis zu Hause halte ich es nicht mehr aus.“ Der Mann verwartete einige Zeit, aber seine Frau blieb fort. Auch die Bahn, die die beiden nehmen wollten, rollte an ihm vorbei in den Bahnhof hinein. Er wunderte sich und machte sich auf die Suche. Dann fand er sie rechts vom Bahndamm auf den Steinen liegend – durch die Bahn enthauptet und entsetzlich zugerichtet. Sie schien beim Verrichten ihrer Notdurft das Gleichgewicht verloren zu haben und war dann in der Dunkelheit vor den einfahrenden Zug gestürzt. Der Lokführer hatte nichts von der Katastrophe bemerkt.
Nun liegt es an mir, dem Mann Stabilität und Halt in dieser unaussprechlichen Tragödie zu geben, und irgendwie geht es auch darum, in diesem Moment für ein wenig Frieden zu sorgen. Dazu müsste ich tief in eine psychologische Trickkiste greifen, die man mir in meinen rettungsdienstlichen Ausbildungen leider nicht vermittelt hatte. Der Mann erzählt immer und immer wieder, wie er den Körper seiner Frau im Kegel seiner Handylampe entdeckt hatte, und ich reagiere meistens mit Schweigen. Immer wieder muss ich mir vorstellen, das gleiche passiere mir selbst – mit jemand Geliebtem aus meinem inneren Kreis. Das Gefühl des Mannes projiziert sich auf mich. Brustenge setzt bei mir ein, weil ich das Schicksal meines Gegenübers nacherleben muss. Die Bilder der Vergangenheit überrollen mich, die Situation entartet zu einem Gewitter in meinem Kopf, der sich anfühlt, als fingen Teile meines teigigen Hirns an zu brennen. Ich merke, wie meine Abwehrstrategien nach drei Jahrzehnten Rettungsdienst versagen, weil etliche psychische Belastungsmomente über die Jahre bei mir kumulierten. In diesem Moment sehe ich nur eine Möglichkeit: Mich derartigen Situationen zu entziehen, was im Rettungsdienst aber so gut wie unmöglich ist, denn schließlich kann ich schlecht sagen „Nein, da fahre ich nicht hin.“ Ich bin froh, als hinter mir die Lichter des KIT-Fahrzeuges auftauchen mit jemandem an Bord, der die Trauer des Mannes aufnehmen kann.
Und ja – dieser Artikel sollte ganz ursprünglich eine Anleitung für psychologische Erste Hilfe werden. Eine Anleitung, wie man in solch schweren Momenten wirksam helfen kann. Wie man dies sagt und jenes tut, um die Kontrolle über eine kaum kontrollierbare Situation zu behalten. Doch das ist schiefgegangen. Schon nach den ersten Zeilen wusste ich, dass mein Handeln in dieser Situation instinktiv verlief, vielleicht auch ein wenig durch Glück begünstigt. Letztendlich wurde aus dem Artikel ein winziger Einblick in den Geschmack der Krisenintervention, für die Resilienz auf höchstem Niveau gefragt ist. Ein klarer Verstand und funktionale Bewältigungsstrategien sind notwendig. Man muss lernen, die eigenen Gedankenbilder zu kontrollieren und schädliche Gedanken abzuwehren. Doch das gelingt nicht jedem – erst recht nicht mir als jemandem, der seit Jahrzehnten im Rettungsdienst arbeitet. An der Krisenintervention würde ich zerbrechen.
Bildquelle: Andre Benz, Unsplash