Ärzte und Fachpflegekräfte sollen sich in Psychiatrien eigentlich um ihre Patienten kümmern. Doch was, wenn die Behandler selbst an ihre Grenzen kommen? Dann landen sie in meiner Sprechstunde.
Der Autor ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben.
Dass die Arbeitsbedingungen in deutschen Kliniken zunehmend schlechter werden, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. „Wir retten Menschenleben. Wer rettet uns?“, liest man z. B. auf Demonstrationsplakaten der wütenden und unzufriedenen Krankenhausbelegschaft. Ökonomische Zwänge, Personalmangel, zu niedrige Gehälter und fordernde Patienten haben aus dem Traumberuf in vielen Fällen einen Albtraum gemacht.
Und so kann ich nicht nur als Ärztin aus eigener Erfahrung von widrigen Bedingungen auf runtergerockten internistischen Stationen berichten, sondern werde in meiner Funktion als Betriebsärztin bei einem überbetrieblichen arbeitsmedizinischen Dienst einmal wöchentlich mit Problemen und Sorgen von Mitarbeitern einer großen landespsychiatrischen Klinik konfrontiert.
Dabei konnte ich schon vor meinem ersten dortigen Einsatz an der Untersuchungsliste sehen, dass ich einer ganz besonderen Klientel begegnen werde. Denn diesmal sollte ich keine Eignungsuntersuchungen oder arbeitsmedizinische Vorsorgen zur Bildschirmarbeit durchführen – diesmal standen hauptsächlich Gespräche auf dem Zettel. Und die waren dann alles andere als leichte Kost. Denn überwiegend klagten mir die Mitarbeiter ihr Leid und wünschten eine betriebsärztliche Befreiung von verschiedenen Aufgaben, Einsatzorten und Arbeitszeiten.
So lernte ich eine leitende Pflegekraft kennen, die bei multiplen internistischen Grunderkrankungen und schwerstem Übergewicht keine Nachtdienste mehr machen wollte. Die hohe Krankheitslast des Mannes im mittleren Alter war quasi eine Blickdiagnose und auf Basis aktueller fachärztlicher Befunde musste eine zunächst einjährige Befreiung von Nachtdiensten meinerseits nicht weiter in Frage gestellt werden.
Anders dann bei einer 50-jährigen Frau, ebenfalls aus dem Pflegedienst, die aufgrund einer operierten Hüfte nicht mehr bei den Suchtpatienten und im Nachdienst eingesetzt werden wollte. Auch diese Dame litt an deutlichem Übergewicht, sie wirkte sehr fordernd und theatralisch. Zwar hatte sie einen hausärztlichen Befund dabei, dieser war aber mehrere Jahre alt und bezog sich auf einen Zeitraum vor einer längst erfolgreich durchgeführten Hüftoperation. Das reichte natürlich vorne und hinten nicht für eine Befreiung, woraufhin die Dame auch noch frech wurde.
Natürlich kann man verstehen, dass gewisse Arbeitsbereiche sehr unangenehm sind – doch eine berufliche Tätigkeit ist kein Wunschkonzert. Auch ich muss hin und wieder zu unangenehmen Kunden fahren, lange im Stau stehen und eine gefühlte Ewigkeit nach einem Parkplatz im Industriegebiet suchen. Nicht alle Probanden riechen gut und auch sexistische Kommentare sind keine Seltenheit. Dennoch kann ich nicht einfach zu meinem Betriebsarzt gehen und mich von der Tätigkeit bei Kunde XY befreien lassen.
Und so entwickelte sich meine Tätigkeit in der Landespsychiatrie schnell zu einem undankbaren Job. Denn einerseits stand ich in engem Kontakt mit dem Arbeitgeber und wollte keine Beschwerden über meine Arbeit bei meinem Chef, andererseits klagten mir mindestens fünf Mitarbeiter pro Untersuchungstag ihr psychisches und körperliches Leid und forderten eine Befreiung von irgendetwas.
Die häufigsten Beschwerden bezogen sich dabei auf im Zuge der Pandemie geschlossene oder zusammengelegte Stationen, einen Überfluss an Patienten und den stetig wachsenden Personalmangel. Und keine Frage: Die Patientenschaft einer großen psychiatrischen Klinik ist keinesfalls einfach. Dort findet man Menschen mit langen Drogenkarrieren, schweren psychotischen Erkrankungen, Gewaltpotenzial und Suizidgefahr. Und dabei rede ich noch gar nicht von den forensischen Stationen und der geschlossenen Abteilung.
Natürlich hat man da Mitleid. Natürlich ist es nicht einfach, die ganzen Geschichten bei der Arbeit zu lassen und zwischen den Diensten im Alltag Entspannung zu finden. Doch haben sich die Mitarbeiter diesen Arbeitsplatz nicht auch selbst ausgesucht? Alles schwierige Fragen und natürlich keinesfalls an mir, diese zu beantworten. Ich versuche stattdessen, mein Bestes zu geben und die Mitarbeiter zu unterstützen.
So sollte ich beispielsweise vor einiger Zeit eine Beurteilung nach dem Mutterschutzgesetz für eine schwangere Pflegekraft durchführen. Die junge Frau war inzwischen in der zehnten Schwangerschaftswoche und saß schon nach wenigen Minuten weinend in meinem Untersuchungszimmer. Ihr Stationsleiter hätte wohl eine Gefährdungsbeurteilung verfasst und wäre zu dem Ergebnis gekommen, dass eine gefahrlose Beschäftigung aktuell nicht weiter möglich sein. Eine leitende Personalkraft habe diese Gefährdungsbeurteilung aber einfach geändert, um einem Beschäftigungsverbot für die Schwangere vorzubeugen.
Der Fall war offensichtlich: Ein totales Unding und aus arbeitsmedizinischer Sicht völlig unverständlich. Denn die Frau hatte eine Risikoschwangerschaft und sollte auf der Suchtstation im Schichtdienst arbeiten – eine klare Gefahr für die gesundheitliche Unversehrtheit von Mutter und ungeborenem Kind. Glücklicherweise konnte ich in diesem Fall ganz klar medizinisch argumentieren und nahm die verzweifelte Frau aus dem Dienst. Eigentlich hätte man gegen den Arbeitgeber vorgehen müssen.
Auch wenn die Tätigkeit in diesem Hause immer wieder eine große Herausforderung für mich ist, bin ich froh, dass ich mich in berechtigten Fällen als Betriebsärztin für die Betroffenen einsetzen kann. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass diese Menschen Aufgaben übernehmen, die sich viele andere nicht einmal vorstellen können. Daher sollten wir die extreme Belastung der Mitarbeiter in unsere Landespsychiatrien aus der dunklen Ecke holen und gemeinsam überlegen, wie wir die Bedingungen nachhaltig verbessern können.
Bildquelle: Ben Sweet, Unsplash