Immer mehr Patienten kommen verzweifelt in meine psychotherapeutische Praxis – der Hausarzt hat sie geschickt, dabei haben sie doch körperliche Symptome. Sind sie bei mir wirklich richtig?
Seit etwa Beginn dieses Jahres sehe ich immer wieder anfragende Patienten, die mit Überweisung vom Hausarzt kommen. Anlass: unspezifische Beschwerden – psychotherapeutische Abklärung. Oder: fragliche Depression. Zu meiner eigenen Verwunderung berichten die verzweifelten Personen primär über körperliche Symptome wie etwa Schwindel, Atemnot, Ohrgeräusche, Myalgien und gastrointestinale Beschwerden.
Es ist normalpsychologisch und nachvollziehbar, dass Menschen nach der dritten oder vierten Vorstellung beim Internisten anlässlich derselben Symptomatik eine leichte Verzweiflung an den Tag legen. Viele Patienten fragen sich auch: „Wieso fragt er/sie nochmal? Wieso wird kein Blut untersucht? Wieso gibt es keine körperliche Untersuchung?“
Diese Verzweiflung, die vielleicht bei dem einen oder anderen mit Weinerlichkeit einhergeht, hat mit einer depressiven Symptomatik jedoch wenig zu tun. Ich kann in solchen Fällen auch keine Depression feststellen – auch nach mehreren Explorationsterminen. Anmerkung: Selbst, wenn man von einem vegetativ-larvierten depressiven Störungsbild ausgeht (z. B. nach Wolfersdorf & Laux, 2021), sollte eine körperliche Untersuchung zur Differentialdiagnostik lege artis durchgeführt werden. Warum werden dann viele Patienten körperlich nicht untersucht – und was soll ich als psychologischer Psychotherapeut dann tun?
Besonders verstrickt ist die Situation bei Patienten mit einer vorhergehenden COVID-19-Symptomatik oder auch einer zurückliegenden COVID-19-Impfung. Leider erlebe ich das mittlerweile so, dass manche organisch tätige Kollegen sehr ungehalten reagieren – oder eben auch gar nicht reagieren. Reaktionen von „sowas gibt es nicht!“, über „Sie haben eine Depression, körperlich ist nichts“ bis hin zur totalen Behandlungsverweigerung „am besten, Sie suchen sich eine andere Praxis.“ Liegt es daran, dass es immer weniger Hausarztpraxen gibt – besonders in ländlichen Regionen? Erlebe nur ich als vielleicht extreme Ausnahme diesen Trend oder geht es auch anderen psychotherapeutisch tätigen Kollegen so?
Zum Glück können wir auch solchen Patienten mit viel Networking und anderen, wiederum sehr hilfsbereiten internistischen Kollegen helfen. Die psychotherapeutische Leistung ist in dem Fall vielleicht, die Betroffenen ernst nehmen, validieren und nicht pathologisieren – und sie dabei unterstützen, eine andere Hausarztpraxis zu finden. Wobei ich mich oft frage, ob dies wirklich zur ambulanten Psychotherapie gehört.
An der Stelle möchte ich noch eines betonen: Vielleicht handelt es sich um Einzelfälle, die akkumulieren und bei mir eine kognitive Verzerrung verursachen (im Sinne einer Verfügbarkeitsheuristik). Es kann sich auch um regionale Unterschiede handeln. Sollte sich dies jedoch auch bei anderen Kollegen ereignen, dann handelt es sich wohl nicht um Einzelfälle.
Kennt ihr das auch? Ich freue mich auf eure Antworten!
Bildquelle: TUDOSE MADALIN, unsplash