Seit längerem wird vermutet, dass die Einnahme von Benzodiazepinen das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, erhöhen könnte. Forscher zeigten nun, dass auch Dosis und Einnahmedauer das Risiko beeinflussen. Zeit, die Verschreibungspraxis dieser Wirkstoffklasse zu überdenken?
Demenz ist eine Erkrankung, die weltweit etwa 36 Millionen Senioren in die Abhängigkeit treibt. Bevölkerungswachstum und demographischer Wandel lassen erwarten, dass sich diese Zahl voraussichtlich alle 20 Jahre verdoppeln wird. Im Jahr 2050 werden nach Prognosen der Weltgesundheitsorganisation demnach etwa 115 Millionen Betroffene auf der Erde leben.
Bereits seit mehr als zehn Jahren stehen Benzodiazepine im Verdacht, negative Auswirkungen auf eine Alzheimer-Erkrankung zu haben oder sogar an deren Entstehung mitbeteiligt zu sein. Dennoch wird diese Wirkstoffklasse in den Industrieländern gerade älteren Menschen häufig verschrieben. „In westlichen Ländern nehmen sieben bis 43 Prozent der Senioren regelmäßig Benzodiazepine gegen Angstzustände und Schlafstörungen ein“, schreiben Wissenschaftler von der Universität Bordeaux im „British Medical Journal“. Auch gegen Depressionen wird die Wirkstoffklasse eingesetzt. Wegen des großen Abhängigkeitspotentials von Benzodiazepinen empfehlen internationale Richtlinien allerdings, eine Therapiezeit von etwa vier Wochen nicht zu überschreiten. „Obwohl der Langzeiteffekt dieser Wirkstoffklasse für Schlafstörungen nicht belegt und für Angstzustände fraglich ist, greifen viele ältere Menschen dauerhaft zu diesen Mitteln“, schreiben die Forscher. Erkranken diese Menschen aber auch häufiger an Alzheimer? Falls ja, wie beeinträchtigen Dosis und Einnahmedauer das Risiko? Diesen Fragen gingen die Wissenschaftler aus Frankreich in einer retrospektiven Studie nach.
Frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass die menschliche Gedächtnisleistung durch die Einnahme von Benzodiazepinen beeinträchtigt wird. Denn während ihrer Wirkdauer war das Erinnerungsvermögen der Patienten stark reduziert. Ob diese Wirkstoffklasse auch das Risiko erhöht, an Alzheimer zu erkranken, ist nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, werteten die Wissenschaftler aus Bordeaux Daten von 125.000 Menschen über 66 Jahren aus. Die Daten wurden im kanadischen Quebec im Zuge eines staatlichen Gesundheitsprogramms gesammelt. Bei der Auswertung der medizinischen Parameter unterschieden die Forscher Einnahmedauer, Dosierung und den Einsatz von kurzzeitig oder länger wirkenden Präparaten. Da Benzodiazepine auch gegen die Anzeichen einer beginnenden Demenz verschrieben werden könnten, schlossen die Forscher nur diejenigen Patienten in ihre Betrachtung ein, bei denen die Medikamenteneinnahme mehr als fünf Jahre vor der Alzheimer-Diagnose stattgefunden hatte.
Während des Beobachtungszeitraums erkrankten 1.796 Senioren an Alzheimer. „Überdurchschnittlich viele von ihnen hatten mehr als drei Monate lang Benzodiazepine eingenommen. Ihr Risiko, an Alzheimer zu erkranken, war gegenüber der Vergleichsgruppe mit 7.184 Teilnehmern um 43 bis 51 Prozent erhöht“, so die Ergebnisse der Forscher. Besonders eine lange Nutzungsdauer und die Einnahme von langwirkenden Benzodiazepinen erhöhten das Risiko der Senioren, an Alzheimer zu erkranken. Dies war auch dann der Fall, wenn die Wissenschaftler bei ihrer Datenauswertung andere, möglicherweise Demenz fördernde Faktoren berücksichtigten. Ob die Wirkstoffklasse dabei gegen Schlaf-, Angststörungen oder depressive Verstimmungen verschrieben wurde, spielte ebenfalls keine Rolle.
Auch andere Studien, teilweise jedoch mit Schwächen im Studiendesign, waren bereits zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Zudem hatte die Arbeitsgruppe aus Bordeaux bereits vor zwei Jahren an 1.063 Teilnehmern mit einem durchschnittlichen Alter von 78 Jahren einen ähnlichen Effekt beobachtet. Auch bei dieser prospektiven Kohorten-Untersuchung war das Risiko, innerhalb der nächsten 15 Jahre an Alzheimer zu erkranken um 50 Prozent erhöht, wenn die Teilnehmer begannen, Benzodiazepine einzunehmen. Eine Studie falle jedoch aus dem Raster, wie die Wissenschaftler schreiben. Im Jahr 1998 kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass Benzodiazepine sogar vor Alzheimer schützen könnten. „Dieses paradoxe Ergebnis lässt sich teilweise dadurch erklären, dass die Referenzgruppe auch Teilnehmer enthielt, die in ihrer Vergangenheit Benzodiazepine eingenommen hatten“, erklären die Wissenschaftler aus Bordeaux.
Da das Risiko an Alzheimer zu erkranken ein dosisabhängiger Effekt zu sein scheint, gehen die Forscher auch von einem kausalen Zusammenhang von Benzodiazepinen und dem Ausbruch der Krankheit aus. „Beweisen können wir diese Vermutung allerding mit unserer Studie nicht“, schränken sie dennoch ein. Auf welchen molekularbiologischen Vorgängen ein solcher Zusammenhang beruhen könnte, ist derzeit noch offen. Die Forscher vermuten jedoch, dass Benzodiazepine die Fähigkeit des Gehirns verringern, Schäden auszugleichen, indem es alternative Schaltkreise benutzt. Obwohl die Zusammenhänge zwischen der Einnahme von Benzodiazepinen und dem Auftreten von Alzheimer noch nicht vollständig geklärt sind, raten die Wissenschaftler dringend dazu, den Umgang mit dieser Wirkstoffklasse neu zu überdenken und bewerten zu lassen. Wie empfohlen, sollten diese Medikamente nur kurzfristig und keinesfalls länger als drei Monate eingenommen werden.