Ein 74-jähriger Patient kommt nach einer Synkope in die Notaufnahme. Was gerade in den heißen Sommermonaten keine Seltenheit ist, entpuppt sich als spannender Fall.
Klinisch präsentiert sich der ältere Herr in einem deutlich exsikkierten Zustand mit stehenden Hautfalten, allerdings auch einer auffälligen roten Gesichtsfärbung. Der Blutdruck ist mit 80/60 mmHg ebenfalls zu niedrig. Anamnestisch berichtet der Patient davon, dass er seit einigen Tagen mehrfach täglich wässrige Diarrhoen und Bauchkrämpfe habe. Das Vorliegen von Fieber wird verneint, ebenso die Aufnahme von ungewöhnlichen oder möglicherweise verdorbenen Speisen. Im Ausland hat er sich ebenfalls nicht aufgehalten. Laborchemisch zeigt sich ein akutes Nierenversagen mit erhöhtem Kreatinin, Harnstoff und einer glomerulären Filtrationsrate < 20 ml/min. Zugleich liegt eine kritische Hypokaliämie von 1,8 mmol/l vor. Neben diesen im Vordergrund stehenden und akut bedrohlichen Parametern zeigen sich noch moderate Erhöhungen der Transaminasen, des CRP und der Lactatdehydrogenase (LDH) sowie eine leichte Bilirubinämie.
Der Patient wird umgehend zur Therapie und Überwachung auf die Intensivstation aufgenommen. Nach Versorgung mit einem zentralen Venenkatheter erfolgt die komplikationslose Volumen- und parenterale Kaliumsubstitution und es kommt zu einer raschen klinischen Besserung. Einzig die Diarrhoen persistieren – in den gewonnenen Stuhlproben kann kein ursächlicher Keim nachgewiesen werden. Eine Behandlung mit Loperamid zeigt nur eine geringe Besserung. Die Sonographie des Abdomens erbringt allerdings einen wichtigen, wegweisenden Befund: In beiden Leberlappen zeigen sich multiple, teils große und metastasensuspekte Raumforderungen. Ein Primärtumor ist sonographisch nicht abzugrenzen.
In der nach Rekompensation der Nierenfunktion durchgeführten Computertomographie mit Kontrastmittel bestätigt sich das Bild einer diffusen hepatischen Metastasierung, darüber hinaus zeigt sich eine schwach abgrenzbare Raumforderung im Bereich des Ileums. Mittels einer Leberpunktion konnte zwischenzeitlich bereits eine Probe gewonnen werden. Der histologische Befund ergab einen gut differenzierten neuroendokrinen Tumor (NET) mit einer Proliferationsrate (Ki-67) von 15 %, in Zusammenschau mit dem CT-Befund mutmaßlich aus dem Ileum stammend. Durch die behandelnden Ärzte wird nun bezüglich der initialen Symptome des Patienten der Verdacht auf ein Karzinoidsyndrom gestellt.
Bei dem Karzinoidsyndrom handelt es sich um einen für NET, die früher als „Karzinoide“ bezeichnet wurden, typischen Symptomkomplex. Dieser tritt in bis zu 20 % aller NET auf, v. a. bei solchen des Ileums oder der Lunge. Pathogenetisch beruht es auf der grundsätzlichen Fähigkeit von NET, Hormone und andere bioaktive Substanzen zu sezernieren. Fürs Karzinoidsyndrom hierbei hauptverantwortlich ist die Sekretion teils großer Mengen von Serotonin, Histaminen und Bradykininen, welche über Vasodilatation und Kontraktionen der glatten Muskulatur für die häufigsten Symptome sorgen: Bis zu 90 % der Patienten mit einem Karzinoidsyndrom entwickeln – ebenso wie der Patient im Fallbeispiel – einen Flush, also eine anfallsartige Rotfärbung v. a. des Gesichts, und 40–60 % klagen über starke wässrige Diarrhoen, die von Bauchkrämpfen begleitet werden. Auch kann es zu akuten Bronchokonstriktionen kommen oder bei anhaltend erhöhten Serotoninspiegeln zu einer progredienten Fibrosierung verschiedener Gewebe, die sich v. a. in einer Endokardfibrosierung mit Veränderungen der Herzklappen äußert.
Dass nicht jeder Patient mit einem NET auch ein Karzinoidsyndrom entwickelt, liegt daran, dass das sezernierte Serotonin für gewöhnlich einem First-Pass-Effekt unterliegt und in der Leber zu 5-Hydroxyindolylessigsäure (5-HIES) verstoffwechselt wird. Somit kommt es meist erst dann zu einem floriden Karzinoidsyndrom, wenn a) eine hepatische Metastasierung vorliegt, die in der Lage ist, das Serotonin am Leberstoffwechsel vorbei in den Kreislauf abzugeben, oder b) die Leberfunktion ausreichend eingeschränkt ist (z. B. ebenfalls durch hepatische Metastasierung oder andere Komorbiditäten). Zur Bestätigung des Verdachts auf ein Karzinoidsyndrom führten die Ärzte in obigem Fall eine Bestimmung von 5-HIES im Urin durch. Da der Serum-Spiegel des Serotonins Fluktuationen unterliegt, ist die Bestimmung seines Abbauprodukts im Urin die diagnostische Methode der Wahl.
Zur symptomatischen Behandlung des Karzinoidsyndroms erhält der Patient eine Gabe des Somatostatin-Analogons Lanreotid, welches die sekretorische Aktivität des NET bremst. Hierunter stellt sich bereits nach kurzer Zeit eine deutliche Besserung der Beschwerden ein, sodass der Patient zeitnah zur weiteren Diagnostik und Therapie auf die onkologische Normalstation verlegt werden kann. Es sollte beachtet werden, dass sowohl ein Absetzen der Lanreotid-Behandlung als auch andere Ereignisse, die mitunter mit einer großen Freisetzung von Serotonin einhergehen (chirugische Eingriffe, Anästhesie, schwere Infekte, …), jederzeit ein erneutes schweres Karzinoidsyndrom triggern können. Eine kausale Behandlung ist nur durch die chirurgische oder onkologische Therapie des NET gegeben.
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