Lange wurden Frauen bei Zulassungsstudien vernachlässigt – nun ist es andersrum. US-Forscher äußern Kritik: Neue Migräne-Therapeutika zielen auf Strukturen ab, die bei betroffenen Männern vermutlich kaum eine Rolle spielen.
Migräne gilt als häufigste neurologische Erkrankung mit rund einer Milliarde Patienten weltweit; schätzungsweise 700 Millionen davon sind Frauen. Seit 1992 haben Triptane die Behandlung deutlich verbessert. Doch Luft nach oben gibt es dennoch, etwa bei Non-Respondern oder bei Patienten mit vielen Migränetagen im Monat. Interessante Zielstrukturen sind Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP), ein Neuropeptid, und der CGRP-Rezeptor.
Auf der Erkenntnis basieren weltweit einige Zulassungen. Monoklonale Antikörper richten sich direkt gegen CGRP (Fremanezumab, Galcanezumab, Eptinezumab) oder gegen den CGRP-Rezeptor (Erenumab). Hinzu kommen CGRP-R-Antagonisten (Ubrogepant, Rimegepant, Atogepant). In JAMA Neurology kritisieren Frank Porreca von der University of Arizona, Tucson, und David W. Dodick von der Mayo Clinic Arizona, Phoenix, die allzu offensive Verordnung der Arzneistoffe speziell bei Männern. Sie sehen entscheidende Schwächen in Zulassungsstudien.
Zum Hintergrund: Sensorischen Fasern, die nozizeptive Informationen aus dem Gewebe an das zentrale Nervensystem weiterleiten, sind bei Frauen und Männern nicht identisch. Auch bei Neurotransmittern gibt es Unterschiede. Alles deute darauf hin, dass Mechanismen, welche der Pathophysiologie der Krankheit zugrunde lägen, zwischen den Geschlechtern unterschiedlich sein könnten, schreiben die Kommentatoren.
Ihre Argumente: In präklinischen Tiermodellen für Migräne löste die direkte Gabe von CGRP in die Dura mater bei weiblichen Mäusen migräneähnliche Schmerzen aus. Der Effekt zeigt sich schon bei viel niedrigeren Dosen des Peptids und mit länger anhaltenden Wirkungen als bei männlichen Mäusen. Und ein CGRP-Antikörper ist zur Therapie migräneähnlicher Schmerzen bei weiblichen Mäusen wirksamer als bei männlichen Tieren.
Das sind Tiermodelle, schön und gut. Doch Porreca und Dodick nennen auch Belege aus klinischen Studien. Erhöhte CGRP-Spiegel während einer Migräne-Attacke normalisierten sich durch Sumatriptan – und zwar bei sieben Frauen. Bei dem einen männlichen Patienten war CGRP weder vor der Behandlung erhöht noch hat sich der Wert therapeutisch verringert. Auch wurden Studien mit CGRP-Infusionen zur Auslösung von Migräne und damit zum Nachweis der Rolle von CGRP bei der Entstehung von Migräne fast ausschließlich an Frauen durchgeführt. Zwar ist die Aussagekraft solch kleiner Studien gering, doch auch große, zulassungsrelevante Arbeiten haben ihre Schwächen.
In den USA nahm das Center for Drug Evaluation and Research öffentlich zugängliche Daten zu Ubrogepant und Rimegepant unter die Lupe. Der koprimäre Endpunkt bestand aus Schmerzfreiheit (Pain Freedom, PF) und der Beseitigung des am stärksten störenden Symptoms (Most Bothersome Symptom, MBS).
Hier sei „kein therapeutischer Nutzen in der männlichen Population gesehen worden“, schreibt das Center for Drug Evaluation and Research. Auch Porreca und Dodick äußern sich kritisch: „Es ist zwar möglich, dass der therapeutische Nutzen bei Männern aufgrund unzureichender statistischer Daten nicht nachgewiesen werden konnte.“ Nur stimme die Beobachtung eben mit Daten aus präklinischen Studien überein. Dies gebe „Anlass zu Bedenken“, Männern solche Medikamente als Kurzzeit-Therapie zu verordnen.
Als Problem bleibt: Bislang ist nur Migräne in Zusammenhang mit dem Zyklus ein Thema, bei dem Neurologen geschlechtsspezifisch behandeln. „Männer sollten darauf aufmerksam gemacht werden, dass experimentelle Studien an Tieren und Menschen eindeutig eine Rolle für CGRP bei Frauen nachgewiesen haben“, machen Porreca und Dodick deutlich. Und klinische Studien hätten ebenfalls nur die Wirksamkeit bei Frauen, aber nicht bei Männern belegt. Für künftige Studien sei es wichtig, einen höheren Prozentsatz an Männern einzuschließen.
Als gute Nachricht bleibt: Vielleicht eröffne der neue Ansatz Möglichkeiten zur Schmerztherapie speziell bei Frauen – und jenseits von Migräne, hoffen die Kommentatoren.
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