In kaum einer anderen Sportart sind Ärzte so eng in die Betreuung der Sportler eingebunden wie beim Boxen. Wie der Sport bei Parkinson helfen könnte und warum er seinen tödlichen Ruf zu Unrecht hat, erfahrt ihr hier.
In einem Sport, in dem es nahezu unumgänglich ist, Verletzungen zu erzeugen und zu erhalten, scheinen kontinuierliche, umfassende Medical-Checks angebracht. Und doch: Trotz internationaler Turniere und einem verhältnismäßig guten Forschungsstand gibt es keine weltweit einheitlichen Standards für die Betreuung von Boxern durch ihren Ringarzt. Abgesehen von den Vorgaben, die zur Teilnahme an den olympischen Spielen berechtigen, gibt es nur nationale Richtlinien, wie etwa die des Bundes Deutscher Berufsboxer (BDB). Die in den letzten Jahren gewonnene Evidenz hat allerdings zu einem verhältnismäßig einheitlichen Routineplan geführt – inklusive einer Jahreshauptuntersuchung, Pre-Fight-Checks und einer Nachsorge der Verletzungen.
Die Eingangsuntersuchungen der Sportler beginnen mit einer auf Besonderheiten des Boxsports ausgelegten Anamnese, sprich: dem Vorstellen von Verletzungen und erlittenen Knock-Outs. Es folgt ein allgemeiner Gesundheits- und Fitnesscheck, in dem Größe, Gewicht, Herz-Kreislauf-System, Sehvermögen, Zahnstatus, Hautbild und neurologischer Status festgehalten werden. Daneben schreiben die Richtlinien in Deutschland vor, dass der Boxer Urin-, HIV- und Hepatitis-Tests ablegt. Der langjährige Chirurg und Sportmediziner Prof. Walter Wagner ergänzt: „Dazu gehört eine Magnetresonanz-Angiografie, bei der das Gehirn und die gehirnversorgenden Gefäße sichtbar gemacht werden.“ Ziel dabei sei es, zu erkennen, ob der Boxer eine Veranlagung zur Aneurysmen-Bildung hat. Wenn dies so wäre, hätte der Sportler ein erhöhtes Risiko, eine Gehirnblutung zu entwickeln und daran zu versterben.
Doch es muss nicht gleich so dramatisch sein. Neben einem erhöhten Mortalitätsrisiko bestehen auch „banale“ Kontraindikationen, bei denen vom Einzug in den Ring abgeraten wird. Dies können offensichtliche Faktoren wie eine Erkältung, nicht ausgeheilte Knochenbrüche oder offene Hautinfektionen sein. Aber auch Bewegungsschmerzen, auffällige Blutdruckwerte oder eine Schwangerschaft sind Ausschlusskriterien.
Sind die jährlichen Untersuchungen positiv verlaufen und es soll zum Showdown im Ring kommen, steht für die Mediziner der Pre-Bout Check an. Der Hamburger Ringarzt Dr. Sven Haladyn erklärt den Hintergrund: „Der Pre-Bout Check erlaubt es, einen aktuellen Eindruck des Fighters zu erhalten. Berücksichtigt werden z. B. auch vorangegangene Schutzsperren durch KOs und Verletzungen. Ich achte zudem auf den Gesamteindruck: trockene Schleimhäute sprechen z. B. für eine ausgeprägte Dehydratation (Gewicht gemacht?), ein erhöhter Puls könnte durch Aufregung zu erklären sein. […] Ich frage auch immer: ‚Möchtest Du heute kämpfen?‘ Dies dient dazu, vor allem den Willen des Fighters (und nicht möglicherweise den des Trainers oder Managers) zu erfragen. Im Zweifel kann man dadurch den Sportler auch schützen, indem man ihn als ‚not fit to box‘ deklariert, wenn er eigentlich gar nicht antreten will – dann bin ich der Buhmann (damit komme ich zurecht) und der Sportler wahrt sein Gesicht.“
So unterschiedlich jede Sportart bestimmte Körperpartien beansprucht, so unterschiedlich sind die spezifischen Auswirkungen und potenziellen Verletzungen. Denkt man beim Boxen an gesundheitliche Auswirkungen, ist man schnell bei Cuts und Frakturen im Bereich des Gesichts oder dem klassischen KO. Dass die Sportmediziner ihre Schützlinge derweil trotz blutender Wunden weiterkämpfen lassen, ist weniger fahrlässig, da die Mediziner einem Schema folgen, wonach Tiefe, Blutungsintensität und Lokalisation der Wunde entscheidend für einen Abbruch sind. Haladyn nennt eine Faustregel: „Eine gute Orientierung bietet zum Beispiel die ‚Inverted Bell Rule‘, also die ‚umgekehrte Glockenregel‘. Diese besagt, dass Cutverletzungen innerhalb dieser Zone eher zu einem Abbruch führen sollten, da sich hier sensible Strukturen befinden (Lippenrot, Nasenknorpel, Nervenaustrittspunkte, Augenlid).“
Während auch das KO als akutes stumpfes Schädel-Hirn-Trauma mit vorübergehender Bewusstlosigkeit umgehend und vergleichsweise einfach in der Nachbehandlung ist wie Stauchungen, Zerrungen und einige der weitergehenden Schäden (von Kopfschmerzen, Tinnitus, Vergesslichkeit und Schwindel bis zu Hör- und Gangstörungen), gibt es auch zahlreiche chronische Folgen und immerhin jährlich rund 10 Todesfälle im Zusammenhang mit dem Sport. Dass Boxen oder auch Mixed Martial Arts damit aber noch nicht einmal in die Top 5 der Sportarten mit den meisten Todesfällen in Deutschland kommen, liegt unter anderem an der engen medizinischen Begleitung. Eine Studie bescheinigt hingegen Schwimmen, Tauchen und Bergwandern eine höhere Mortalitätsrate – verursacht durch Ertrinken und Polytrauma.
Wahr ist aber auch: 10 bis 20 % der Boxer leiden unter Langzeitschäden – allen voran dem „Boxersyndrom“, der chronisch-traumatischen Enzephalopathie (CTE). Die neurodegenerative Erkrankung wird durch Schläge auf den Kopf ausgelöst und führt zu Gedächtnisverlust, Störung der Exekutivfunktionen sowie verminderter Impulskontrolle, Aggressivität und Suizidalität. Als Ursache beschreibt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft: „Im Gehirn der Betroffenen sieht man Veränderungen in der weißen Substanz des Gehirns, die an die Alzheimer-Krankheit erinnern. Es kommt zu schädlichen Ablagerungen des Proteins Tau. Außerdem nimmt das Hirnvolumen ab.“ Aktuell gehen Mediziner davon aus, dass für eine Entwicklung der CTE keine schweren Traumata als vielmehr hunderte rezidivierende Mikrotraumata verantwortlich sind.
Stimmt also die vermeintliche Churchillsche Devise, dass Sport Mord sei? Jein. Sehen wir mal wohlwollend von der juristischen Definition des Mords ab, bleiben selbstverständlich viele positive Aspekte. Und auch hier nimmt der Boxsport eine Sonderrolle ein. Aktuelle Studien kommen nämlich zu dem Ergebnis, dass Boxen insbesondere Erwachsenen helfen kann, die an Morbus Parkinson leiden. Sowohl motorische als auch nicht-motorische Symptome sollen durch die Ausführung intensiver Boxeinheiten gelindert werden können. Auf wissenschaftlicher Grundlage der bisher größten klinischen Studie (13.000 Teilnehmer aus 5 Ländern) – dem Parkinsons Outcomes Project – entstand so das Rock Steady Boxing. Auch in Deutschland sind bereits Trainingsstätten etabliert. Der Trainingsplan der Erkrankten sieht dabei wöchentliche Trainingseinheiten von mindestens 1,5 bis 2,5 Stunden vor, um das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen.
Forscher des Rush University Medical Center kommen in einer Studie zu dem Ergebnis, dass Boxen gegenüber vielen anderen Sportarten besonders geeignet ist, da es Kraft- mit Ausdauereinheiten verbindet, Herz-Kreislauf- und Aerobic-Training mit aufnimmt sowie Gleichgewichtsübungen, Beinarbeit und Hand-Augen-Koordinationen erfordert. Zudem kommen kognitive Komponenten wie Techniken und Krafteinschätzung zum Tragen. Dadurch, dass der Sport mehr oder weniger intuitiv und im Ring wenig repetitiv sei, sei die Motivation – auch durch den sozialen Aspekt – leichter aufrechtzuerhalten.
Doch Boxen hilft auch auf psychischer Ebene. So werden Trainingseinheiten seit einigen Jahren als therapeutisches Boxen in multidisziplinäre Bewegungstherapien eingebettet – insbesondere, um mentale Problematiken und Beschwerden in den Griff zu bekommen. So biete sich Boxen insbesondere dann an, „wenn eine bessere Selbstabgrenzung erforderlich erscheint. Ebenso kann aber auch eine Minderung starker psychischer Anspannung erzielt werden, sowie eine Sensibilisierung und Intensivierung der Selbstwahrnehmung und Körperwahrnehmung, wenn diese erforderlich erscheint. […] Affekt- und Gefühlswahrnehmung sowie -steuerung können verbessert werden. Eigene, eventuell abgespaltene, aggressive Erlebens- und Verhaltensanteile können beim Boxen zugänglich und erlebbar werden.“
Ja, hier sind wir nun nicht mehr im Profi-Boxsport – zwischen 90-minütigem therapeutischem Boxen im Außenraum und dem 12 mal 3 Minuten Adrenalin-Kick auf 6 Quadratmetern bestehen Unterschiede. Und doch zeigt sich auch für die vermeintliche „Killer-Sportart“ Boxen, dass sie vermutlich die gesündere Einstellung ist, als das Motto „no sports, whisky and cigars“.
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