Für Rückenmarksverletzungen gibt es bisher keine Behandlung – ein orales Medikament soll jetzt die Lösung bringen. Aber wie sieht’s aus mit Risiken und Nebenwirkungen?
Die weltweite Prävalenz von Rückenmarksverletzungen (Spinal Cord Injury, SCI) wird auf 0,7 bis 1,2 Millionen Fälle pro Jahr geschätzt, wobei Stürze und Verkehrsunfälle die Hauptursachen sind. Allein in den USA entstehen jährlich Kosten in Höhe von 4 Milliarden Dollar für die direkte Gesundheitsversorgung und indirekte Kosten (z. B. Arbeitsunfähigkeit und Sozialfürsorge). Das zentrale Nervensystem kann sich nicht von selbst regenerieren und es gibt bislang keine zugelassenen Arzneimittel, die dieses Versagen beheben können – es besteht ein weitgehend ungedeckter klinischer Bedarf.
Neue Forschungsergebnisse des Institute of Psychiatry, Psychology & Neuroscience (IoPPN) am King’s College London haben die Sicherheit und Verträglichkeit eines neuen Medikaments zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen untersucht.
Die Forschungsergebnisse wurden im British Journal of Clinical Pharmacology veröffentlicht. Sie zeigen, dass das Medikament KCL-286, das durch die Aktivierung des Retinsäure-Rezeptors beta (RARb) in der Wirbelsäule die Genesung fördert, von den Teilnehmern einer klinischen Phase-I-Studie gut vertragen wurde und keine schweren Nebenwirkungen hatte. In einer Phase-IIa-Studie sollen nun Sicherheit und Verträglichkeit des Medikaments bei Menschen mit SCIs untersucht werden.
Frühere Forschungsarbeiten verschiedener Gruppen haben gezeigt, dass das Nervenwachstum durch die Aktivierung des RARb2-Rezeptors angeregt werden kann, aber es wurde noch kein für den Menschen geeignetes Medikament entwickelt. Prof. Jonathan Corcoran, Professor für Neurowissenschaften und Direktor der Abteilung für neurowissenschaftliche Wirkstoffforschung, und sein Team entwickelten nun KCL-286, ein RARb2-Agonist. Agonisten wirken, indem sie an einen inaktiven Rezeptor binden und ihn so aktivieren. In einer ersten Studie wurde KCL-286 eingesetzt, um seine Sicherheit beim Menschen zu testen.
109 gesunde Männer wurden in eine von drei Studiengruppen eingeteilt: eine Gruppe mit einer aufsteigenden Einzeldosis (Single Ascending Dose, SAD), einer Lebensmittelinteraktion (Food Interaction, FI) und eine Gruppe mit mehreren aufsteigenden Einzeldosen (Multiple Ascending Dose, MAD). Die Teilnehmer jeder Gruppe wurden außerdem in verschiedene Dosisbehandlungen unterteilt.
SAD-Studien dienen dazu, den sicheren Dosierungsbereich eines Arzneimittels zu ermitteln, indem den Teilnehmern zunächst kleine Dosen verabreicht werden, bevor die Dosis schrittweise erhöht wird. Die Forscher achten auf etwaige Nebenwirkungen und messen, wie das Medikament im Körper verarbeitet wird. In MAD-Studien wird untersucht, wie der Körper auf eine wiederholte Verabreichung des Medikaments reagiert und es wird geprüft, ob sich ein Medikament im Körper anreichern kann.
Die Forscher fanden heraus, dass die Teilnehmer in der Lage waren, 100 mg KCL-286 sicher und ohne schwerwiegende unerwünschte Ereignisse einzunehmen – es erwies sich bei gesunden Teilnehmern als sicher und verträglich.
Corcoran, Hauptautor der Studie, fasst zusammen: „Dies ist ein wichtiger erster Schritt zum Nachweis der Eignung von KCL-286 für die Behandlung von Rückenmarksverletzungen. Diese erste Studie am Menschen hat gezeigt, dass eine Dosis von 100 mg, die über eine Tablette verabreicht wird, von Menschen sicher eingenommen werden kann. Außerdem haben wir nachgewiesen, dass der Wirkstoff am richtigen Rezeptor angreift.“ Er hoffe, „dass wir uns nun auf die Erforschung der Auswirkungen dieser Intervention bei Menschen mit Rückenmarksverletzungen konzentrieren können.“
Dr. Bia Goncalves, leitende Wissenschaftlerin und Projektmanagerin der Studie sowie Erstautorin der Studie, erklärte: „Rückenmarksverletzungen sind ein lebensverändernder Zustand, der die Fähigkeit eines Menschen, die einfachsten Aufgaben auszuführen, stark beeinträchtigen kann, und die Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit sind erheblich. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen das Potenzial für therapeutische Interventionen bei SCIs, und ich bin zuversichtlich, was unsere künftige Forschung ergeben wird.“ Demnach könnte in Zukunft ein oral verfügbares Medikament zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen zur Verfügung stehen.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung des King's College London. Hier findet ihr die Originalpublikation.
Bildquelle: Casper Nichols, Unsplash