Höchstleistungen im Sport gelingen nur mit der richtigen Ernährung. Aber was, wenn genau diese der Leistungsoptimierung zum Opfer fällt? Über Essstörungen im Radsport.
Neben der gleichsam bekannten und beliebten Tour de France, deren 110. Ausgabe auch in diesem Jahr ein Millionenpublikum am Streckenrand und vor den Fernsehgeräten begeisterte, umfasst der professionelle Radsport eine Vielzahl an Disziplinen, wie Mountainbiking, BMX oder Bahnradsport. Alle Spielarten teilen dabei die nahezu unmenschlichen Ansprüche an die körperliche Leistungsfähigkeit und die große Bedeutung von Training und Ernährung. So spielt letztgenannte insbesondere in Hinblick auf das Wettkampfgewicht sowie für Kraft und Ausdauer eine wesentliche Rolle.
Kein Wunder also, wenn professionelle Radsportler spezielle und strenge Ernährungsformen dazu nutzen, sich auf legalem Wege dem Siegertreppchen etwas näher zu bringen. Doch die Schattenseiten sieht man spätestens beim Interview mit den jeweiligen Etappensiegern: Die meist sehr dünnen Männer scheinen einen Körperfettanteil von annähernd 0 % zu haben und wirken angestrengt und ausgemergelt.
Aber ist das vielleicht nur ein falscher erster Eindruck? Dürfen wir diese Ausnahmeathleten überhaupt mit uns normalen Berufstätigen vergleichen, die es bestenfalls im Sommerurlaub mal zu einer längeren Radtour schaffen? Sind wir nur neidisch auf die Disziplin zur gesunden Ernährung, die wahrscheinlich hinter diesen perfekten Körpern stecken muss – oder verbirgt sich hinter dieser Leistungsoptimierung im schlimmsten Fall eine gesundheitsschädliche Essstörung?
Eine Forschungsgruppe um Erstautor C. J. Roberts ging diesen Fragen auf den Grund und veröffentlichte eine Übersichtsarbeit über Essstörungen und gestörtes Essverhalten im Radsport auf Leistungsebene. Ihre Literaturrecherche ergab insgesamt 14 methodisch qualitativ hochwertige Studien zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten, darunter Radfahren als gefährdete Disziplin für Essstörungen, Leistungsgewicht, Energiebedarf und das Risiko einer geringen Energieverfügbarkeit sowie Zusammenhänge zwischen Essstörungen und Bewegungssucht.
In Bezug auf das erstgenannte Thema zeigte sich über alle betrachteten Publikationen hinweg eine auffällig hohe Prävalenz von Essstörungen im professionellen Radsport. Ein Beispiel liefert eine Studie von Ferrand und Brunet aus 2004 mit 42 männlichen Profiathleten im Durchschnittsalter von 22 Jahren mit einem mittleren Body-Mass-Index von 20,5kg/m. Da lagen die Ergebnisse des „Eating Disorders Test 26“ zur Diagnostik von Essstörungen in 24 von 42 Fällen im auffälligen Bereich. Auch in den weiteren Studien zeigten sich ähnlich auffällige Häufigkeiten. Da das Forschungsteam der Übersichtsarbeit dennoch von einer hohen Dunkelziffer ausgeht, sollten spätestens diese Zahlen das Problembewusstsein schärfen.
Diese alarmierende Situation ist aber sicher nur ein Aspekt der Gesamtproblematik. Denn viel wichtiger bleibt die Suche nach Ansatzpunkten zur Prävention von Essstörungen und zur Behandlung von Athleten, die durch Fortführung ihrer Leistungsoptimierung im schlimmsten Fall ihr Leben gefährden könnten. Roberts und sein Forschungsteam untersuchten daher in ihrer Übersichtsarbeit ebenfalls den Einfluss der Betreuung der Athleten durch Ernährungsberater und das soziale Umfeld. Für beide Bereiche bzw. Faktoren konnten sie einen bedeutsamen Einfluss attestieren.
Obgleich sie sich für die Zukunft mehr Studien und Aufmerksamkeit zu diesen beiden Ansatzpunkten wünschen, könnte hier der Schlüssel zur Vorbeugung und Vermeidung von Essstörungen im Profi-Radsport liegen. Denn die Ansprüche von Ernährungsberatern, Trainern und Publikum setzen immer wieder die entscheidenden Maßstäbe, an denen sich Leistungssportler im Radsport orientieren. Folglich sollten wir uns von Grundsätzen wie „höher, schneller, weiter“ und unendlicher Leistungsoptimierung verabschieden und zum Schutze der Gesundheit unserer Athleten den menschlichen Körper mit all seinen Stärken und Schwächen – jenseits von Perfektionismus – wieder mehr zu schätzen lernen.
Roberts C. J., Hurst H. T., Hardwicke J. Eating Disorders and Disordered Eating in Competitive Cycling: A Scoping Review. Behav Sci (Basel). 2022 Dec 2; 12 (12): 490. doi: 10.3390/bs12120490.
Weitere Infos zur 110. Austragung der Tour de France gibt es auf der offiziellen Homepage: https://www.letour.fr/de
Hilfe bei Essstörungen auf der Homepage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) findet ihr unter: https://www.bzga-essstoerungen.de/hilfe-finden/
Bildquelle: Benoît Deschasaux, Unsplash