Es ist traurige Realität, aber Angriffe auf Rettungskräfte gehören zum Alltag in Deutschland. Was ich mir vom US-Militär abgucke, um heil wieder nach Hause zu kommen, lest ihr hier.
Vor einiger Zeit griff ein Betrunkener an der Einsatzstelle aus dem völligen Nichts heraus meinen Kollegen und mich an. Der Kumpel des Betrunkenen hatte uns angefordert, weil dieser mit dem Hinterkopf in seiner Wohnung gegen ein Bettgitter gestoßen war und sich dabei eine Platzwunde am Hinterkopf zugezogen hatte. Der Kumpel half dem betrunkenen Freund nach unten. Dort legte dieser sich auf die Trage, die mein Kollege extra schon bereitgestellt hatte. Als wir den Patienten einladen wollten, schien es so, als hätte jemand aus dem heiteren Himmel einen Hebel umgelegt. Wir waren plötzlich zu Gegnern geworden und wussten absolut nicht, weshalb. Der Patient riss sich die Gurte vom Körper, sprang von der Trage und trat so dagegen, dass diese umfiel. Dann schlug er um sich. Er schrie, beschimpfte und schlug auch nach uns. Mein Kollege drückte die Notruf-Taste am Funkgerät. Die Leitstelle reagierte sofort und schickte mehrere Streifen zu unserer Einsatzstelle.
Angrif auf ein RTW-Team. Credit: Rettungsdienst-Realtalk
Ganz besonders in der Stadt geschehen Angriffe häufig. Wir geraten als Rettungskräfte unverschuldet in den Fokus fehlender Impulskontrolle von Aggressoren, denen wir nur helfen wollen und aufgrund unserer Garantenstellung auch helfen müssen. Aber wie kommen wir heil aus so einer Sache heraus? Wie signalisieren wir einem Aggressor, dass wir keine Opfer sind und er mit uns auch kein leichtes Spiel haben wird? Wie verhindern wir Schlimmeres? Was können wir machen, um nicht in der Öffentlichkeit angesichts sofort gezückter Handykameras gleich als Schläger in Uniform dazustehen und auf YouTube zu landen? Und wie können wir das letztendlich am besten verhindern? Ich für meinen Teil habe mich mental auf derartiges Gefahrenpotenzial vorbereitet:
Gefahrenradar trainieren
Werdet selbst aktiv. Prüft eure Umgebung ab, indem ihr euch beim Betreten einer Szene eine Reihe Fragen stellt:
Ein gut trainiertes Gefahrenradar bedeutet, dass man sehr genau zwischen gefährlichen und ungefährlichen Personen und Situationen unterscheiden lernen muss. Das geht nur bewusst und muss täglich mental trainiert werden.
Denken in Farbcodes für Gefahrenstufen
John Dean „Jeff“ Cooper war Schießausbilder und Oberstleutnant bei den US Marines. Er hat den Cooper Color Code in die Ausbildung des US-Militärs eingeführt. Dieser Farbcode hilft einem dabei, in gefährlichen Situationen zu denken. Dabei gilt: Je höher der Grad der Gefährdung, desto höher die Bereitschaft, Maßnahmen gegen einen Gegner zu ergreifen. Die Codes sind:
Hier ist keinerlei Aufmerksamkeit notwendig. Man befindet sich zum Beispiel in einer geschützten Umgebung (Rettungswache, zu Hause).
Das eigene Gefahrenradar hat sich aktiviert, um seine Umgebung besser wahrzunehmen. Dies passiert in der Regel, wenn man die geschützte Umgebung verlässt. Die Visualisierung hilft auch dabei, Störfaktoren auszuschalten, die einen dabei ablenken können (Smartphone, Zeitschrift, Musik).
Orange folgt, wenn du eine potenzielle Gefahr wahrgenommen hast. Beispiel: Als Rettungsdienst betrittst du mit deinem Teampartner einen Flur und stehst nach kurzer Zeit vor einer verschlossenen Tür. Du klopfst und weißt nicht, wer sich hinter der Tür verbirgt und welche Gefahren dort lauern. Orange begründet zum Beispiel, sich nicht direkt vor die Tür zu stellen, einen Fluchtweg erdacht und eine Grenze als Auslöser für den Code Rot definiert zu haben.
Jemand öffnet die Tür. Ihr seht zunächst nur das Gesicht. Kurze Zeit später zieht der wahnhaft wirkende Aggressor die Tür ganz auf und hält ein Messer vor euch. Der Farbcode wechselt nach Rot – ein Angriff steht unmittelbar bevor. Der Aggressor hat den bei Orange erdachten Auslöser überschritten. Bei Rot erfolgt dann ohne Umschweife eine Maßnahme, die ebenfalls bei Orange bereits erdacht wurde: „Wenn uns jemand bedroht, flüchten wir durch die Haustür ins Freie.“ Die Tatsache, dass bereits bei Orange Maßnahmen erdacht wurden, helfen dabei, Verzögerungen und ein Erstarren zu vermeiden.
Für den Gebrauch außerhalb des Militärs eher weniger von Belang. Cooper hatte Code Schwarz vorgesehen, um nach einem erfolgten Angriff zum Beispiel potenziell tödliche Verletzungen zu ermitteln und Gegenmaßnahmen einleiten zu können.
Angst reduzieren
Angst lähmt euren Geist und steht euch im Falle einer Bedrohung im Weg. Nur eine entspannte Wahrnehmungsfähigkeit und aktives Denken verhelfen zu einem kühlen Kopf. Damit diese Angst reduziert wird, muss man derartige Situationen regelmäßig geistig trainieren und immer wieder Lösungen durchspielen. Wenn man durch eine Situation nicht überrascht wird, bleibt man handlungsfähig.
Niemals direkt vor der Haustür stehenbleiben
Direkt vor der Eingangstür habt ihr keine realistische Möglichkeit, euch einem direkt ausgeführten Angriff zu entziehen. Reißt jemand die Tür auf und schlägt nach euch, kann es schnell sehr unfreundlich werden.
Niemals vorauslaufen
Betretet ihr eine Wohnung, lasst immer den Angehörigen oder den Patienten vorauslaufen. So habt ihr dessen Verhalten im Blick für den Fall, dass sich dieser als Aggressor entpuppt.
Codewort für den sofortigen Abbruch und Rückzug
Vereinbart ein signifikantes Codewort oder auch einen Satz, um eurem Teampartner zu signalisieren, dass die Einsatzstelle sofort verlassen werden muss – zum Beispiel „Code Red.“
Rückzug bei unklarer/unübersichtlicher Lage sichern
Retter 1 betritt die Wohnung, Retter 2 bleibt in der Eingangstür stehen. Während sich Retter 1 in der Wohnung um den Patienten kümmert und die Wohnung in Augenschein nimmt, behält Retter 2 an der Eingangstür die Wohnung und die Beteiligten im Auge. Er hält damit einen Fluchtweg offen.
Schutzschild: Rucksack
Der vor den Körper gehaltene Rucksack bietet eine gute Barriere zwischen einem Angreifer und euch. Nutzt ihn!
Handfunkgerät ...
... immer mitnehmen! Eine Handgurke, die im RTW liegt, nützt euch im Notfall nichts. Die rote Taste am Funkgerät öffnet für einige Zeit den Funkkanal und signalisiert der Leitstelle euren Notruf, bei dem auch euer aktueller Standort übermittelt wird. Die Leitstelle kann so hören, was bei euch an der Einsatzstelle passiert – ohne dass ihr das Funkgerät bedienen müsst.
Vorsicht Kamera!
Traurig genug, dass man sich in der heutigen Zeit auch Gedanken um die eigene juristische Position im Verteidigungsfall machen muss, aber: Wenn jemand in der Öffentlichkeit auf euch zugeht und euch ans Leder will, reißt nach Möglichkeit zuerst die Hände hoch, geht rückwärts und sagt laut, dass ihr keinen Ärger wollt. Dies bildet in erster Linie einen psychologischen Zaun zu eurem Angreifer und zeigt, dass der Täter es hier mit jemandem zu tun hat, der sich wehren kann.
Aber in zweiter Linie besteht die Umgebung auch aus Zeugen, die in diesem Fall eure Abwehrhaltung zuerst wahrnehmen und dies später auch so aussagen werden. Macht ihr das nicht und reißt sofort die Fäuste hoch oder schlagt zu, sehen die Zeugen unter Umständen auch nur, dass ihr den ersten Schritt unternehmt, ohne eure Verteidigungssituation wahrzunehmen. Zeugen sind euch nicht immer wohlgesonnen. Das gleiche gilt für die Situation, in der Unbeteiligte Handys auf die Szene gerichtet haben und filmen. Auch wenn dies verboten ist, sieht man trotzdem möglicherweise nur, wie ihr eure Fäuste hochreißt. Bleibt nach Möglichkeit also immer defensiv und ...
... nehmt lieber die Beine in die Hand!
Das bedeutet konkret: Nur „ein vermiedener Kampf ist ein gewonnener Kampf“ – Lao Tse. Vermeidet grundsätzlich jegliche körperliche Auseinandersetzung. Ruft Hilfe (Notruftaste am Funkgerät!) und zieht euch zurück. Lasst Material zur Not an der Einsatzstelle zurück. Setzt die Schwelle zur Nachforderung der Polizei sehr weit unten an. Im Zweifel kommen sie lieber einmal umsonst, als dass ihr Schaden durch einen Angriff nehmt.
Kein Berufshelfer darf bedroht, verletzt oder gar getötet werden, nur weil er im Rahmen seines Jobs an eine Einsatzstelle fährt und sich dem ganzen noch nicht einmal entziehen kann, weil ihn die Leitstelle einen Notruf abarbeiten lässt. Aber so sieht nun mal die Realität aus. Nicht alle Menschen sind uns wohlgesonnen, nicht jeder Ort ist positiv und nicht jede Handlung gegen uns ist zu unserem Wohl ausgerichtet. Aber durch ein trainiertes Gefahrenradar haben wir selbst ein großes Stück weit in der Hand, ob unsere körperliche Unversehrtheit dem Zufall überlassen bleibt oder nicht.
Zurück zum alkoholisierten Typ mit seiner Kopfverletzung: Maximal eine Minute nachdem mein Kollege die Notruftaste gedrückt hatte, bügelten drei Streifen um die Ecke, was sicher einer der Vorteile am Dienst in der Großstadt ist. Zunächst lief der Aggressor direkt auf den ersten Polizisten zu, der seine Waffe bereits gezogen hatte. Der Täter blieb stehen, die zweite Streife überwältigte ihn und beförderte ihn aufs Revier. Er wurde als haftfähig eingestuft, schrie in seiner kargen Zelle herum und beschimpfte die Polizisten und uns mit Begriffen, die einem die Schamesröte ins Gesicht treiben. Ihn erwartet nun Ärger wegen Widerstand, Beleidigung, Körperverletzung und tätlichem Angriff gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen. Allein der letzte Punkt ist mit einer dreimonatigen Mindestfreiheitsstrafe bedroht. Da hat derjenige dann schön viel Zeit, um über so einen Unfug nachzudenken.
Für mich persönlich entsteht durch eine Verurteilung keine Genugtuung. Für mich geht es ausschließlich darum, nach jedem Tag Dienst gesund nach Hause zu kommen.
Bildquelle: Mat Napo, unsplash