Jedes sechste Kind im Alter von fünf Jahren nässt nächtlich ein – bei den 15-Jährigen sind es noch rund 1,5 Prozent. Auch wenn man heute einiges über Enuresis nocturna weiß, gibt es noch viele Fragezeichen. Eine Vielzahl von Ansätzen versucht möglichen Ursachen entgegenzuwirken.
Australische Wissenschaftler haben jetzt einen Zusammenhang zwischen Enuresis und nächtlichen Atemstörungen erkannt. Kinder mit zu großen Gaumen- oder Rachenmandeln konnten häufig durch die Beseitigung der Atemhindernisse vom Bettnässen befreit werden. War die Atmung wegen eines zu engen Gaumens gestört, wurden die Bettnässer beim Tragen eines Expanders zur Dehnung des Rachens rasch trocken. Hierzulande gibt es bisher noch keine derartigen Forschungsansätze. „Möglicherweise sinkt durch die Atemprobleme der Unterdruck im Brustkorb so sehr, dass vermehrt bestimmte Hormone gebildet werden, die zusätzlich Flüssigkeiten aus dem Körper ausscheiden“, so Dr. Ingo Franke, Oberarzt am Zentrum für Kinderheilkunde des Universitätsklinikums Bonn. Begünstigende Erkrankungen sind auch u. a. Zystitis, Obstipation, urethrale Obstruktionen und Diabetes. Je länger ein Kind schläft und je kleiner die funktionelle Blasenkapazität ist, umso größer ist das Risiko, dass die nächtliche Urinproduktion die Blasenkapazität übersteigt.
Psychopathologisch könnte neben vielen anderen Ursachen auch die Wut und die Eifersucht auf ein neugeborenes Geschwisterkind die Ursache sein. Das Kind darf seine Abneigung nicht zeigen, aus Angst, die Liebe der Eltern zu verlieren. Das Kind hat in der Interaktion mit den Eltern Erfahrungen bedingter Wertschätzung gemacht, die ihm ‚gesagt‘ haben: „Nur wenn Du Dich so verhältst, wie wir das für gut halten (und dazu zählt, eben nicht wütend auf das Geschwisterkind zu sein), lieben wir Dich“. Für das Kind ist das Einnässen eine Möglichkeit, diesen Konflikt zu lösen, eine Kompromissbildung zu finden: Das Kind setzt sich in einen Zustand vor Geburt des Geschwisterkindes zurück (als die ‚Konkurrenz‘ noch nicht bestand) und versucht sich auf diese Weise selber die Zuwendung der Eltern zu sichern, ebenfalls in den Mittelpunkt zu gelangen. Diese Ansicht vertritt unter anderem die Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten in Deutschland (VAKJP) in ihren Leitlinien über Enuresis.
Die International Children's Continence Society (ICCS) empfiehlt die Einteilung in monosymptomatische Enuresis (MNE) und nicht-monosymptomatische Enuresis (NMNE). Kinder, die an der monosymptomatischen Form leiden, nässen ausschließlich nachts ein. Kinder, die auch tagsüber Symptome wie vermehrte oder verminderte Miktionsfrequenz, imperativen Harndrang, Haltemanöver oder Harninkontinenz zeigen, erhalten die Diagnose NMNE. Die Einteilung der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) sieht wie folgt aus: Primäre isolierte (monosymptomatische) Enuresis nocturna:
Primäre nicht-monosymptomatische Enuresis nocturna:
Sekundäre Enuresis nocturna:
Untergruppen tags oder tags/nachts einnässender Kinder Idiopathische Dranginkontinenz:
Harninkontinenz bei Miktionsaufschub:
Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination:
Seltene Formen umfassen:
Lassen sich keine organischen Störungen als Ursache feststellen, haben sich besonders psychotherapeutische Ansätze und Verhaltenstherapien bewährt. Eltern sollten ihr Kind nicht bestrafen, wenn es ins Bett gemacht hat. Auch die Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr oder das Aufwecken des Kindes nach einem „feuchten Ereignis“ sind nicht sinnvoll. Hilfreich kann ein Enuresis-Tagebuch sein. Dieser Kalender kann Kindern ab einem Alter von fünf bis sechs Jahren helfen, trocken zu werden. Nach einer trockenen Nacht strahlt im Kalenderblatt die Sonne, die feuchten Nächte werden mit einer Wolke markiert. Bei jedem vierten Kind gelingt es auf diese Weise, das Problem innerhalb von mehreren Wochen in den Griff zu bekommen. Ziel ist es, das Selbstvertrauen des Kindes zu stärken. Steht eine Sonne im Kalender, gibt es reichlich Ermutigung und Lob. Reicht ein „Sonne und Mond Kalender“ nicht aus, sollten verhaltenstherapeutische Ansätze probiert werden. Wie oben beschrieben, ist es nicht sinnvoll, wenn die Eltern das Kind wecken, wenn sie merken, dass das Bett feucht ist. Dem Kind fehlt dann der kausale Bezug zum Ereignis des Einnässens. Lediglich wenn das Wecken unmittelbar nach dem Ereignis passiert, kann man sich einen „Pawlowschen Reflex“ nutzbar machen. Wenn die Blasenkontrolle versagt, können technische Sensorgeräte hilfreich sein. Methoden dieser Art sind in etwa 70 Prozent der Fälle heilend wirksam.
Diese elektronisch-unterstützenden Methoden helfen dem Kind, entweder trocken durchzuschlafen oder zu merken, wenn die Blase voll ist, und dann wach zu werden. Gibt das Gerät ein akustisches Signal, muss das Kind vollständig wach werden. Da oft der Rufton nicht ausreicht, sollten die Eltern das Kind dann vollständig wecken und mit ihm zur Toilette gehen. Das Gerät muss jede Nacht zum Einsatz gebracht werden. Man unterscheidet körpergebundene und bettgebundene Geräte. Körpergebundene Therapiegeräte sind häufig wirksamer als bettgebundene. Mit diesen sogenannten Klingelhosen® lassen sich bessere Lernerfolge und eine kürzere Behandlungsdauer erzielen. Auch für die Eltern bieten sie Vorteile. Gut konstruiert sind sie handhabbarer, komfortabler, funktionell tüchtiger und weniger pannenanfällig. Bettnässende Kinder haben eine höhere Erweckbarkeitsschwelle, die mit den Alarmgeräten überwunden wird. Besonders bei den Kindern mit nächtlicher Urge-Symptomatik scheint die Methode zu wirken. Der Stress durch das Aufwachen verhindert die Blasenkontraktion. Keinesfalls darf die Alarmtherapie dazu führen, dass das übermüdete Kind tagsüber vom Schlaf übermannt wird.
Bei der Enuresis nocturna sind nach den Leitlinien der DGKJP ineffektiv:
Das Konzept der Urotherapie, bestehend aus nicht-pharmakologischer und nicht-chirurgischer Therapie ist ein verträgliches und effizientes Gesamtbehandlungskonzept.
Die Leitlinie „Enuresis und funktionelle Harninkontinenz (F98.0)“ der DGKJP stammt aus dem Jahr 2006 und ist somit als antiquiert anzusehen. Sie sollte 2011 überarbeitet werden, aber auch im Jahr 2014 ist bisher noch keine neue Leitlinie veröffentlicht worden. Die Datentherapie zur Pharmakotherapie bei Kleinkindern ist sehr schlecht, lediglich zur Langzeittherapie bei Jugendlichen liegen einige Daten vor. Das synthetische ADH-Analogon Desmopressin zeigt zumindest kurzfristig Erfolge, in sieben von 10 Fällen wird eine Reduktion der nassen Nächte erreicht. 25 Prozent werden im Verlauf einer 14-tägigen Therapie sogar vollständig trocken. 80 Prozent erleiden jedoch einen Rückfall. Die Gabe des Pharmakons kann oral oder nasal erfolgen und erscheint besonders bei hohem nächtlichen Urinvolumen sinnvoll. Die gefährlichste unerwünschte Wirkung ist Hyponatriämie. Eine Kombination mit den Anticholinergika Oxybutinin, Propiverin und, ab dem 12. Lebensjahr, Trospiumchlorid ist möglich. Anticholinergika sollten nur nach Ausschluss einer Obstipation oder vorhandener Restharnmenge eingesetzt werden. Eine Monotherapie, die ohne ADH als Basistherapie meist in höheren Dosen erfolgt, ist durch zahlreiche unerwünschte Wirkungen gekennzeichnet. Es treten Mundtrockenheit, Halluzinationen, Agitation und Albträume auf. Auch trizyklische Antidepressiva wie Imipramin werden häufig genannt. Die Kardiotoxizität schränkt die Anwendung jedoch deutlich ein. Egal ob Hose oder Pharmaka, im Mittelpunkt der Therapie sollte das Kind mit seinen Problemen stehen. Enuresis ist eine große Herausforderung, für Therapeuten, Eltern und den betroffenen, kleinen Patienten.