Erstmals wurden aus humanen Stammzellen embryonenähnliche Strukturen erzeugt. Für die einen ein bahnbrechender Erfolg, für andere grenzüberschreitende Hybris. Wo stehen wir – und vor allem: Was wollen wir?
Mehrere Arbeiten zu frühen humanen Embryonenmodellen haben im Juni für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Das wissenschaftliche Wettrennen begann mit Preprints aus Israel und Großbritannien. Innerhalb von einem Tag folgten weitere Preprints aus China und den USA. In allen ging es um die Erstellung embryonenähnlicher Strukturen, entweder aus humanen embryonalen Stammzelllinien (hESC) oder humanen induzierten pluripotenten Stammzellen (hiPSC). Letztere lassen sich aus adulten Zellen, etwa Hautzellen, beliebig erzeugen. Eine Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist nicht mehr nötig. Die Modelle gleichen 14 Tage alten Embryonen. Die britische Gruppe erlangte das Gastrula-Stadium, in dem sich die drei Keimblätter Ektoderm, Mesoderm und Endoderm bilden. Es handelt sich um das erste, so weitreichende Modell und wurde inzwischen in Nature publiziert.
Die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung betonte in einer Stellungnahme, die Modelle würden zwar das frühe Entwicklungsstadium menschlicher Embryonen nachbilden, sich aber nicht weiterentwickeln. Deren Leitlinien verbieten den Transfer von Embryonenmodellen in einen menschlichen oder tierischen Uterus.
Die Forschungsgruppen hätten nicht die Intention, lebensfähige Embryonen zu erzeugen, sondern wollen dazu beitragen, solch frühe Entwicklungsperioden besser zu verstehen. Dadurch könne man möglicherweise Ursachen für genetisch bedingte Erkrankungen oder habituelle Aborte finden und therapieren.
In Deutschland gibt es mehrere Arbeitsgruppen, die seit Jahren Grundlagenforschung zur Embryonalentwicklung an der Maus betreiben. Prof. Sebastian Arnold aus der Forschungsgruppe der Uni Freiburg sieht folgende Einschränkung: „Es gibt durchaus Entwicklungsprozesse, die beim Menschen anders sind als bei der Maus. Wenn man die menschliche Embryonalentwicklung verstehen will, muss man Wege finden, wie man das in Modellen studieren kann.“ Er sieht in den aus Stammzellen erzeugten Embryonenmodellen Strukturen, die den natürlichen menschlichen Embryonen sehr ähnlich sind. Sie entsprechen dem Tag 13 oder 14 nach der Befruchtung. Das entspricht einem gerade eingenisteten Embryo, noch vor einer echten Organentwicklung, ohne schlagendes Herz oder ZNS. Wie weit sich diese Embryomodelle weiterentwickeln können, wisse man noch nicht. „Ich bin aber davon überzeugt, dass man das noch viel weiterbringen kann als bisher gezeigt“, so sein Resümee in der Badischen Zeitung.
Dr. Jesse Veenvliet, Leiter der Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut in Dresden, spricht von einem beeindruckenden Ergebnis, nachdem mehr als ein Jahrzehnt an pluripotenten Stammzellen geforscht wurde: „Die Ähnlichkeit mit dem natürlichen Embryo ist bemerkenswert, fast unheimlich.“
Die Problematik der Preprints fand während der Corona-Pandemie erstmals eine größere mediale Aufmerksamkeit. Dabei ging man von einer gesundheitlichen Notlage aus, die eine rasche, noch nicht in einem Begutachtungsverfahren geprüfte Veröffentlichung rechtfertigte.
Auslöser für diesen aktuellen Publikationswettlauf von Preprints war ein Beitrag im Guardian vom 14. Juni. In der Schlagzeile war von „Fortschritten bei synthetischen Embryonen“ die Rede. Prof. Magdalena Zernicka-Goetz aus der britischen Forschungsgruppe soll im Interview mit dem Guardian gesagt haben: „Unser menschliches Modell ist das erste mit drei Keimblättern, inklusive Amnion und Keimzellen.“ Der Anspruch, als Erster diese Entdeckung gemacht zu haben, hätte einen unnötigen Wettlauf ausgelöst, wie Beobachter aus Fachkreisen meinen.
Auf einer Pressekonferenz betonte Zernicka-Goetz später: „Es gibt viele Modelle menschlicher Embryonen, die verschiedene Merkmale der Entwicklung nachbilden – sie sind alle wertvoll und sollten nicht in Konkurrenz stehen.“
Man tut sich allein mit der Begrifflichkeit schwer. Soll man die entstandenen Strukturen synthetische Embryonen nennen, wie in einigen Medien zu lesen war, oder Embryoide, Embryomodelle oder einfach Embryonen? Den einen ist synthetische Embryonen zu reißerisch, andere stören sich daran, humane Zellen als Modell zu bezeichnen.
Auf jeden Fall wird die neuste Entwicklung von humanen Embryomodellen ethische und juristische Debatten auslösen. Thema werden Status und Schutz von sehr frühen Stadien menschlichen Lebens sein, insbesondere weil man die Grenzen der Entwicklung und die möglicherweise doch potenzielle Lebensfähigkeit nicht kennt.
Prof. Wolfram Henn, Humangenetiker und Mitglied des Deutschen Ethikrates, ist davon überzeugt, dass das Ziel der Modelle nicht die Erzeugung entwicklungsfähiger Embryonen ist. Jedoch muss auch hier, seiner Meinung nach, an ein Missbrauchspotenzial gedacht werden. Juristische Rückendeckung gibt Prof. Hans-Georg Dederer von der Uni Passau. Seiner Auffassung nach verstießen die Modelle nicht gegen das Embryonenschutzgesetz (ESchG), da es sich hier nicht um Embryonen im Sinne des Gesetzes handle.
Im Jahr 2016 hat die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung die bislang nicht verbindliche 14-Tage-Regel aufgegriffen. Die In-vitro-Forschung an Embryonen sollte demnach nur bis zum 14. Tag erfolgen – dem Tag, an dem natürlicherweise die Schwangerschaft mit der Einnistung beginnt. Im Jahr 2021 wurde allerdings die Leitlinie an Forschungszwecke angepasst. Durch künstliche Befruchtung entstandene Embryonen oder aus menschlichen Stammzellen hergestellte embryoähnliche Strukturen sollen ausnahmsweise und nach strenger Prüfung auch länger als 14 Tage kultiviert werden dürfen.
Ethisch umstrittenen Fragen der Medizin sind eine Herausforderung. Würde man sich generell aus Angst vor unvorhersehbaren Folgen dem Fortschritt verweigern, wären viele Errungenschaften ausgeblieben. Für die Betroffenen bedeutet das einen Verlust an Lebensqualität oder sogar Lebenszeit.
Werden andererseits ethische Bedenken prinzipiell einem Forschungsdrang untergeordnet, geraten wir möglicherweise in eine Kaskade von Grenzüberschreitungen, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Wie weit können und möchten wir gehen?
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