Kennt ihr Puffy Face oder Space Adaptation Back Pain? Erfahrt hier, warum Weltraummedizin auch für euren Praxisalltag relevant ist und wieso viele außerirdische Probleme weltliche Lösungen brauchen.
Rund 9 Monate dauert eine mögliche Reise zum Mars. Gut 55 Millionen Kilometer gilt es dabei zu überwinden – in einer Umgebung, die den menschlichen Körper in jeder erdenklichen gesundheitlichen Weise an seine Grenzen bringt. Und dennoch: Der Traum von der Reise zu unserem Nachbarplaneten lebt. Wegbereiter für den ersten Schritt auf den roten Planeten sind die Frauen und Männer der Weltraummedizin.
Die Allrounder, die die Astronauten auf ihren Aufenthalt im All vorbereiten, müssen dabei eine Menge im Blick behalten: ob kosmische Strahlung, Mikrogravitation oder veränderte Druckverhältnisse. Sie führen unter anderem zu Muskel- und Knochenatrophie, Übelkeit, Erbrechen, Dehydration, Herzrhythmus- und Sehstörungen, Orthostaseintoleranz, Depression, Schlaflosigkeit sowie – mit Blick auf Langzeitwirkungen – erhöhte Risikowahrscheinlichkeiten für Krebs, Glaukom oder nachhaltige Hirnschäden.
Der Ort in Deutschland, an dem sich die Forschung an und mit den Allreisenden fokussiert, ist das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Genauer: in dessen Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin.
Doch traten all diese Beschwerden bei Alexander Gerst, Matthias Maurer und Co. auf? Und was sind die dringendsten Baustellen für eine mögliche Reise zum Mars? Die Leiterin der Abteilung Klinische Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR, Dr. Claudia Stern, weiß, was auf die Astronauten zukommt:
„Die sogenannte Weltraumkrankheit, das Space Adaptation Syndrom, betrifft 70 % aller Astronautinnen und Astronauten. Allerdings kann man da mit Medikamenten schon ganz gut entgegenwirken und die Astronauten gewöhnen sich auch sehr schnell daran. Nach einer Woche sind die typischen Koordinations- und Bewegungsschwierigkeiten schon besser und die Übelkeit verschwunden. Das Gehirn ist sehr flexibel und stellt sich besser darauf ein, als man vielleicht zunächst glauben mag. Das Puffy Face – die durch Druckveränderung hervorgerufene Flüssigkeitsverschiebung in den Kopf – nimmt erst in den kommenden Tagen und Wochen ab. Gleichzeitig steigt der Hämatokritwert und da Muskeln und Herz nicht mehr viel zu tun haben, müssen die Raumfahrenden viel Sport treiben. Ebenso wird das Immunsystem stark zurückgefahren. Was im All von Nachteil ist, bietet uns die Möglichkeit, direkt nach Ankunft mit den Astronauten zu erforschen.“
Den Anpassungsvorgängen des menschlichen Körpers an Schwerelosigkeit und Druckverhältnisse entkommt folglich kein Astronaut. Eher unterscheide sich in Nuancen je nach individueller Vorbereitung wie stark man betroffen sei. Im Schnitt scheiden die Allreisenden zum Aufenhaltsbeginn in der Schwerelosigkeit bis zu 1,5 Liter Urin aus, das Blutvolumen sinkt und eben jener Fluid Shift findet statt – Körperflüssigkeiten aus den Beinen steigen in den Oberkörper und Kopf. Durch den Knochenabbau werden Kalksalze ausgeschieden. Die Bandscheiben dehnen sich durch den Wegfall der Schwerkraft um bis zu 5 cm aus – die Astronauten leiden dann unter dem Space Adaption Back Pain.
Credit: Thilo Noack /https://d-nb.info/103038164X/34 Doch bei all den Widrigkeiten, auch etwas Erbauliches: Die Astronauten können heute mit gezieltem und kontinuierlichem Training den gröbsten Folgen der Mikrogravitation entgegenwirken und die Effekte auf Muskeln und Knochen verlangsamen. Dies helfe nicht nur dabei, einen dekonditionierten Körper bei Wiedereintritt in die Atmosphäre vor Knochenbrüchen zu schützen, sondern helfe auch dabei, wenn es einmal darum geht, körperlich anstrengende Arbeiten – wie etwa Außenreparaturen oder gar Bewegungen auf dem Mars – durchzuführen.
Dass man nun in Sachen medizinischer Vorbereitung einen Schritt weitergehen muss, erklärt Stern: „Früher lag der Schwerpunkt auf einer Erforschung des Muskel- und Knochenschwunds in der Schwerelosigkeit. Da ist viel geforscht worden, um Gegenmaßnahmen zu entwickeln, um den Abbau zu reduzieren. Mit den täglichen individuellen Sportprogrammen, die die Astronauten durchführen müssen, haben wir das mittlerweile ganz gut im Griff. Aktuell untersuchen wir Veränderungen an den Augen der Astronautinnen und Astronauten. Die ersten Publikationen dazu haben wir vor 12 Jahren veröffentlicht, aber wir stellen fest, dass die Veränderungen wirklich massiv sind – das ist neu. Parallel dazu messen wir auch im Gehirn Veränderungen.“
Konkret spricht die gelernte Ophthalmologin die Forschung zur SANS-Problematik an, zu der sie bis vor Kurzem an einer Bettruhestudie mit einem Team von NASA-Wissenschaftlern zusammenarbeitete. Das Spaceflight-Associated Neuro-ocular Syndrome (SANS) umfasst dabei eine Reihe von okularen Veränderungen, wie teilweise nicht vollständig reversible Pathologie uni- und bilaterale Papillenödeme (rechts häufiger als links), Distensionen der Optikusscheiden, einen hyperopen Shift, Bulbusabflachungen, Aderhautfalten und Cotton-wool-Herde. In den andauernden Studien von NASA und DLR geht es darum, mit verschiedenen Mitteln Gegenmaßnahmen zu entwickeln, die den Entwicklungen vorbeugen.
Doch die Weltraummediziner begeben sich forschungstechnisch auch in Gebiete, die erstmal nach Science-Fiction klingen: „Es gibt auch Forschung zum Thema Winterschlaf, Hibernation. Bei dem Thema stehen wir allerdings erst am Anfang und untersuchen, wie Körperfunktionen und Stoffwechsel verlangsamt werden können. Ein tierisches Vorbild dafür ist der Bär. Ein Erfolg in diesem Gebiet hätte den Vorteil, dass wir nicht viel Nahrung mitnehmen müssten, weniger Sauerstoff verbraucht würde und sich auch die Effekte der Strahlenbelastung minimieren lassen könnten.“
Das große Sorgenkind der Weltraummedizin ist derzeit vor allem das Thema Strahlung. „Insbesondere wenn wir zum Mond und Mars wollen, ist und bleibt die Strahlenbelastung der große Showstopper“, bringt es Stern auf den Punkt. Dass das gerechtfertigt ist, zeigt ein kurzer Blick auf die Expositionsdaten. Während man sich auf der Erde einer durchschnittlichen Strahlenbelastung von 0,3 Millisievert pro Jahr ausgesetzt sieht, sind es auf der ISS etwa 200 Millisievert – und bei einem Flug zum Mars wären es etwa 600 Millisievert. Auch Menschen, die hierzulande in einem Kernkraftwerk arbeiten, kommen mit 20 Millisievert auf nicht annähernd solch hohe Werte. Was dies bedeutet und wie stark sich das Krebsrisiko erhöht, hängt dabei insbesondere von der Dauer des Aufenthalts sowie der Zusammensetzung der Strahlung ab. Die Bandbreite an Auswirkungen ist groß und kann zwischen primären physikalischen Wechselwirkungen über später auftretende Tumorbildung bis hin zu DNA-Schäden in Form von Einzel- oder Doppelstrangbrüchen, Basenschäden oder -verlust oder Chromosomenschäden führen.
In den letzten Jahren erweiterte sich das Forschungsfeld der Weltraummediziner zudem noch um Fragen der Ernährung, Psychologie sowie um Schlaf- und Humanfaktoren. Letzteres untersucht dabei Aspekte der Baromedizin und der Lärmwirkungsforschung – immerhin bildet die 24/7 Dauerbeschallung mit einer Lautstärke von rund 75 Dezibel auf der ISS das Kontrastprogramm zum lautlosen Weltall. Insbesondere vor dem Hintergrund einer dreijährigen Mission zum Mars, bei der eine kleine Crew, auf engstem Raum, unentwegt aufeinander hockt und aufeinander angewiesen ist, müssen Szenarien um Angstzustände, Stress, Depression, Einsamkeit, Langeweile und Konflikte im Team erforscht und durchgetestet werden. So kamen amerikanische Anthropologen im Rahmen einer Polarforschungsmission zu der Erkenntnis, dass intelligente Menschen mit humorvollen Charakterzügen in der Gruppe Spannungen erheblich entgegenwirken und als Verbindung zwischen unterschiedlichen Lagern wirken können. Ansonsten gelte es, eine Mischung aus introvertierten und extrovertierten Menschen zu finden.
Derweil gibt es auch „hausgemachte“ Probleme, die gesundheitliche Auswirkungen haben, weiß Stern: „Jeder Astronaut bekommt zu Beginn alle möglichen Projekte und Experimente vorgestellt und kann sich dann selbst aussuchen, an welchen er an Bord der ISS forschen möchte. Insgesamt stehen zwischen 70 und 100 davon zur Auswahl. An Bord haben die Astronauten einen enorm hohen Willen und hohe Ambitionen, diese zu erfüllen. Das kann den negativen Effekt haben, dass sie im All permanent arbeiten und dadurch ein großes Schlafdefizit aufbauen. Dann müssen unsere Fliegerärzte am Boden Experimente streichen.“
Als wären die medizinischen Aufgaben für einen astronautischen Flug zum Mars nicht groß genug, setzen die Weltraummediziner aber auch auf eine Vernetzung zum haus- und fachärztlichen Bereich auf der Erde. Die Forschungseinrichtung :envihab ist dafür das jüngste institutionelle Beispiel. Hier findet integrative lebenswissenschaftliche Forschung statt, die in neuen technischen Geräten, Therapiemöglichkeiten und wissenschaftlicher Grundlagenarbeit Ausdruck findet.
Im Blick haben die Forscher insbesondere kleine medizinische Geräte zur Diagnostik und Therapie. Ziel sei es, handliche und leichte Geräte für Ultraschall, EKG, Überwachung, Erste Hilfe und Interventionen wie Lithotripsien zur Verfügung zu stellen. Daneben bietet vor allem das envihab mit seiner Humanzentrifuge Möglichkeiten, die Wirkmechanismen zur Behandlung von Osteoporose, Muskelschwund oder Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems zu erforschen. Doch auch in anderen Modulen und Abteilungen arbeiten die Forscher an Projekten, die insbesondere in der Reha-Medizin, Selbstversorgung und im notärztlichen Bereich Anwendung finden können.
Dazu kommen die Ergebnisse und Erkenntnisse, die die Astronauten bei ihrer Forschung unter einzigartigen Bedingungen im All gewinnen. Die Arbeit an und mit Organoiden ist hier beispielhaft. Die toxikologischen Experimente können auf der ISS ohne Stützskelett durchgeführt und so Gewebe-Ersatz für verschiedene Organe erstellt werden.
Und wie sieht es nun mit dem Flug zum roten Planeten aus? Sterns Prognose: „Ende der 30er Jahre werden wir wohl auf dem Mars landen. Die gesamte Forschung, die wir jetzt durchführen, geht in Richtung Mars – natürlich mit dem Zwischenschritt Mond, aber Themen wie Strahlung, Gehirn- und Augenveränderungen, Ernährung, autonome medizinische Selbstversorgung, Medikation, Selektion und Psychologie werden vor dem Hintergrund der Langzeitaufenthalte und -Flüge vorgenommen. Von den aktuellen Beschwerden der Astronauten haben wir vieles im Griff, aber noch nicht alles. Das wird sich bis dahin ändern.“
Bildquelle: Monica Garniga, unsplash