Sehbehinderten Menschen bleiben mit Langstöcken nur Relikte aus technologischen Urzeiten, um sich zu orientieren. Jetzt stattet BlindMaps Tasthilfen und tragbare Endgeräte mit einem speziellen Navigationssystem aus, um Betroffenen einen Teil ihrer Mobilität zurückzugeben.
Noch vor zehn Jahren lebten in Deutschland 164.000 blinde und rund eine Million sehbehinderte Menschen. Während Erblindungen zahlenmäßig nur leicht angestiegen sind, gibt es mehr und mehr Patienten mit Sehschwäche. Augenärzte erklären dies mit Alterserkrankungen wie diabetischen Retinopathien oder altersbedingten Makuladegenerationen. Betroffene sind in ihrem Orientierungsvermögen mehr oder minder stark eingeschränkt. Für sie blieben bis dato nur Blindenhunde oder weiße Langstöcke als Hilfsmittel. Technische Innovationen suchte man vergebens.
Markus Schmeiduch gab sich mit dem Status quo nicht zufrieden. Er kennt die Not nur allzu gut – durch Jobs in einem Hotel, das sich auf Blinde spezialisiert hat. „Damals organisierte ich als Gästebetreuer Tagesausflüge und musste erfahren, welche Herausforderungen es auf der Straße und speziell im öffentlichen Verkehr gibt, falls die Sehleistung eingeschränkt ist“, erzählt er im Gespräch mit DocCheck. Zusammen mit Andrew Spitz und Ruben van der Vleuten studierte Schmeiduch am Copenhagen Institute of Interaction Design. Ein Workshop brachte die Idee, Interaktionen zwischen Mensch und Maschine zu untersuchen: „Wir haben das Selbstverständnis, Mobilität im öffentlichen Raum mit Hilfe von Technologien für alle zugänglich zu machen.“ Nach Abschluss ihres Projekts bekamen die Entwickler viel positive Rückmeldung aus dem Web. Dank europäischer Fördergelder knüpfte Schmeiduch Kontakte mit potenziellen Usern, um von deren Erfahrungen zu profitieren; Entwicklungen im stillen Kämmerlein sind nicht seine Philosophie. Schließlich war die Zeit reif für voll funktionsfähige Prototypen – per 3D-Druck in Amsterdam produziert. Dabei handelte es sich um Griffe von Blindenstöcken, die BlindSquare drahtlos steuert: eine App, um Usern per Sprache zu erklären, was sie in ihrer Umgebung vorfinden. Ein weiterer, praxistauglicher Knauf machte Abstände zum nächsten Beacon („Leuchtfeuer“) fühlbar. Beacons sind kleine Sender, die anzeigen, wo sich beispielsweise am Bahnhof Tasten befinden, um Audioansagen zu aktivieren.
Warum dieser Aufwand? Marktübliche Navigationssysteme haben einen entscheidenden Nachteil. Sie arbeiten mit visuellen Displays und sind daher für blinde Menschen ungeeignet. Schmeiduch dazu: „Wir untersuchten, ob sich ‚Tangible Interfaces‘ im Gegensatz zu Bildschirm-Interfaces für blinde Menschen eignen“ – die Geburtsstunde von BlindMaps. Tangible User Interfaces sind berührbare Schnittstellen zur Interaktion von Mensch und Maschine. Per Sprache geben User ihre Route ein. Die Ausgabe läuft über dynamische Oberflächenstrukturen mit haptischer Technologie, aber nicht über Sprache. Umgebungsgeräusche sind damit irrelevant. Ähnlich wie bei der Brailleschrift weisen kleine, tastbare Stifte den rechten Weg. Sollten Fehler auftreten, errechnet das System per Knopfdruck eine alternative Route, und Wegbeschreibungen verbessern sich selbst lernend weiter. Mit BlindMaps sei ein „kostengünstiges, offenes Navigationssystem, das europaweit funktioniert“, entwickelt worden, sagt Schmeiduch. Er arbeitet mit Creative Commons, einer frei verfügbaren Lizenz, um weitere Partner zu finden. „Unser Ansatz ist kein millionenschweres Forschungsprojekt, das vielleicht in zehn Jahren funktioniert. Vielmehr setzen wir auf bereits existierende, kostengünstige Technologien.“ http://vimeo.com/105148928
Bereits jetzt erlebt BlindMaps national und international große Anerkennung. Am 5. September erhielt das Entwicklerteam beim Prix Ars Electronica 2014 eines der begehrten „Voestalpine Art and Technology“-Stipendien. Markus Schmeiduch, Andrew Spitz und Ruben van der Vleuten stehen alle Türen zum Ars Electronica Futurelab offen, einem innovativen Think Tank für Technologien von morgen. „Wir sind zwar noch am Anfang, haben jedoch erste funktionierende Prototypen gebaut und dafür bereits sehr gutes Feedback erhalten“, so Schmeiduch. Jetzt gilt es, europaweit Partner zu finden, um BlindMaps voranzutreiben. Beispielsweise überlegt das Team, welches Positionsbestimmungssystem zum Einsatz kommen soll. Während amerikanische GPS-Technologien mit einer Genauigkeit von vier Metern ihre Schwächen aufweisen, ist beim europäischen Galileo von 0,5 Metern die Rede – wichtig, um Hindernisse oder Wege möglichst akkurat zu verorten. Als weitere Komponente sind Karten mit hoher Genauigkeit wie OpenStreetMap unabdingbar. Für Schmeiduch wären aber auch Kooperationen mit Google oder Microsoft denkbar. Um entsprechende Systeme auch in Blindenstöcke zu verbauen, müssen Fragen zur Miniaturisierung gelöst werden – dank Mobilfunk-Technologien kein Hexenwerk. Schmeiduch plant jetzt eine „Proof of Concept“-Studie in der Londoner U-Bahn und am Flughafen von San Francisco, um sein System mit mehreren Usern auf längere Zeit zu testen. Wie stabil und wie robust sind entsprechende Tools? Solche Fragen lassen sich nur im Feldeinsatz klären. „Anschließend werden wir bestimmt noch viele Verbesserungen angehen. Danach gehen wir weitere Schritte in Richtung Produkt“, sagt der Entwickler. Für Details sei es aber noch zu früh.
Trotzdem macht sich das Team schon heute Gedanken über monetäre Aspekte. „Wir setzen bewusst auf offene Hardware, die kostengünstig verbaut werden kann“, erklärt Schmeiduch. Komponenten für einen Prototypen schlugen mit 120 Euro zu Buche. Durch größere Chargen wäre man bei 30 Euro – zuzüglich Kosten für Logistik und Zertifizierung. „Wir sind optimistisch, dass ein Endprodukt unter 200 Euro erhältlich wäre. Zudem veröffentlichen wir alle Baupläne öffentlich und unter einer Creative Commons-Lizenz.“ In Zukunft kann jeder User Baupläne downloaden und das Tool selbst nachbauen. Analoge Blindenstöcke gehören dank BlindMaps vielleicht schon bald der Vergangenheit an – eine echte Innovation für alle Menschen mit Sehbehinderung.