Defektes Gewebe durch reprogrammierte Stammzellen einfach ersetzen: Dieser Ansatz wurde nun erstmals bei einer Patientin mit altersbedingter Makuladegeneration umgesetzt. Sie wurde mit retinalen Pigmentepithelzellen versorgt, die zuvor aus iPS-Zellen gewonnen wurden.
Die altehrwürdige Wissenschafts-Fachzeitschrift „Nature“ wählte für den Anfang ihres Kommentars zur Operation reichlich ungewöhnliche Worte: „Das ist überwältigend, ich bin begeistert und habe genau darauf gewartet“. Mit diesem Satz zitieren die Autoren Sara Reardon und David Cyranoski die Stammzellenforscherin Jeanne Loring vom kalifornischen Scripps Forschungsinstitut. Loring und viele andere Stammzellexperten sind gespannt auf die Ergebnisse einer kleinen klinischen Studie im japanischen Kobe. Dort haben Ärzte um Masayo Takahashi vom Riken Center für Entwicklungsbiologie zum ersten Mal einer Patientin mit altersbedingter Makuladegeneration umprogrammierte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) eingesetzt.
Die Zellen stammen ursprünglich von einer Hautbiopsie des Arms der Patientin und verwandelten sich mit molekularbiologischen Werkzeugen zuerst in Stammzellen und im zweiten Schritt dann zu retinalen Pigmentepithelzellen. Für die Entwicklung des „Rückwärtsgangs“ von der differenzierten Körperzelle zum ursprünglichen Alleskönner bekam Takahashis Landsmann Shinya Yamanaka 2012 den Nobelpreis für Medizin. Bisher hatte jedoch noch niemand den Mut, diese neue Methode tatsächlich am Menschen als Therapieoption auszuprobieren, denn nicht alle präklinischen Versuche erfüllten die hochgesteckten Erwartungen. Auch dieses erste Experiment am Menschen hat nicht die Heilung der fortgeschrittenen Degeneration der Netzhautzellen zum Ziel, sondern soll erst einmal zeigen, dass die Implantation von differenzierten iPS nicht mit unerwarteten starken Nebenwirkungen verbunden ist. Lange Zeit galten Stammzellen als die Wunderwaffe der Wissenschaft gegen alles, was im Körper des Menschen kaputtgegangen ist oder von Haus aus einen Defekt aufweist. Die Wunschvorstellung, einfach Stammzellen zu isolieren und sie in das betreffende Gewebe einzusetzen, erwies sich jedoch sehr bald als unrealistische Utopie. Selbst die bislang recht erfolgreiche Transplantation von hämatopoetischen Stammzellen zur Behandlung von Leukämien ist mit umfangreichen Vorbereitungen und großen Risiken verbunden. Eine allogene Knochenmarktransplantation kommt aufgrund des Risikos einer GvH-Reaktion nicht ohne Immunsuppression und vorherige Bestrahlung aus.
Dementsprechend lässt sich auch eine Art „Stammzellbank“ für verschiedene Organe nur schwer verwirklichen. Denn nur bei einer allogenen Transplantation könnte man eine große Menge Zellen für sehr unterschiedliche Zwecke auf Vorrat halten. Bei autogenen Zelltherapien reicht in den meisten Fällen die Zeit nicht aus, um die erforderliche große Menge an Stammzellen zu generieren. Schließlich müssten sich bei Gendefekten die entnommenen Zellen ja nicht nur in Stammzellen verwandeln, sondern bekommen von Gentechnikern auch noch die korrekten Erbinformationen eingesetzt. Aber auch das exakte „Modelling“ für den passgenauen Zellersatz ist noch nicht reif für große klinische Studien. Dennoch halten Ira Fox vom McGowan Institute for Regenerative Medicine der Pittsburgh University und andere Stammzellexperten diese Probleme für lösbar: „Obwohl es noch nicht möglich ist, pluripotente Stammzellen zu Zellen zu differenzieren, die in vielen Organen die identischen Merkmalen wie die gerade benötigten aufweisen,“ so schreiben sie in einem aktuellen „Science“-Artikel, „ist es wohl eine Frage der Zeit, bis diese „Ingenieur-Probleme“ gelöst werden.“ Besonders große Hoffnungen auf eine zukünftige Stammzelltherapie hegen Kardiologen und Neurologen, die sich davon Hilfe im Kampf gegen Krankheiten wie Alzheimer, ALS oder Parkinson erhoffen. Bei Herzkrankheiten und -infarkten gibt es Studien am Menschen bisher nur mit muskulären Zellen oder Stammzellen aus dem Knochenmark sowie im Tierversuch mit pluripotenten Stammzellen. Mehrere Studien untersuchten etwa, ob sich durch die direkte Injektion von autogenen Knochenmarkszellen nach ischämischen Herzversagen die eingeschränkte Herzfunktion verbessern lässt. Bezüglich Mortalität und Herzauswurf ergaben sich dabei jedoch keine Verbesserungen. Bei der Injektion von Myoblasten im Tierversuch wachsen diese zu einem separaten Gewebe ohne Verbindung zum Herzmuskel an. Stammzellen verbinden sich zwar mit dem Muskel, aber auch im Tierversuch ergab eine Vielzahl von Ansätzen kein eindeutig positives Ergebnis und eine gute Regeneration des Herzens. Die injizierten Zellen haben zudem meist ein kurzes Leben. Viele Forscher mutmaßen daher, dass die positiven Effekte eher auf einen parakrinen Mechanismus als auf einen direkten Zellersatz zurückzuführen sind.
Bei degenerativen Erkrankungen des zentralen Nervensystems stehen die Forscher vor dem Problem, meist nicht nur eine Zellart ersetzen zu müssen. So sind bei Alzheimer oder auch bei der Lewy-Körper-Demenz mehrere unterschiedliche Neuronentypen und zum Teil auch Gliazellen betroffen. Die Ausbreitung der Krankheit geschieht über Synapsen und abgegrenzte Gehirnregionen hinweg. Bessere Chancen ergeben sich, wenn wie bei Morbus Parkinson nur ein bestimmter Neuronentyp nicht mehr funktioniert. Während klinische Studien mit fötalem Gewebeersatz bisher weitgehend erfolglos blieben, sieht es im Labor bei Mäusen und Ratten etwas vielversprechender aus. Erste Ergebnisse beim Einsatz von pluripotenten Stammzellen lassen ähnlich gute Ergebnisse bei Patienten zumindest erhoffen. Typ-1 Diabetiker und Patienten mit Lebererkrankungen könnten ebenfalls von einer Reparatur ihrer Defekte mit Stammzellen profitieren. Erste klinische Versuche verliefen hier mit gemischtem Erfolg. Aber auch hier sind wie anderswo, so zeigten die Pilotversuche, große Mengen an Stammzellen notwendig, um wirklich eine defekte Organfunktion wieder anzukurbeln und wiederherzustellen.
Während sich in der Zellkultur Stammzellen mit den geeigneten Faktoren und Nährstoffzusätzen vergleichsweise gut vermehren lassen, scheint das in vivo wesentlich schwieriger zu sein. Hier ist noch wenig darüber bekannt, welche Faktoren aus der Nachbarschaft den injizierten Stammzellen oder zum Teil differenzierten Vorläuferzellen das Anwachsen erleichtern und bei der Vermehrung helfen können. Bei Traumata oder großer Zellzerstörung sind entsprechende Gerüste oftmals verloren gegangen, an denen sich die Zellen für die Bildung neuer Strukturen ausrichten. Dabei helfen dann künstliche Geländer, an denen schon im Labor die benötigten Zellen entlangwachsen. Besonders dann, wenn Stammzellen vor dem Einsatz in vivo genetisch verändert werden, steigt das Risiko für ungewolltes und unkontrolliertes Zellwachstum. Denn unabsichtlich könnten dabei Onkogene aktiviert werden, die dann statt dem Zellersatz einen Tumor entstehen lassen. Cynthia Dunbar vom amerikanischen „Heart, Lung and Blood Institute“ weist dabei auf ihre Erfahrungen mit iPS-Zellen in Rhesusaffen hin. „Dieses Modell hat uns gezeigt, dass aus undifferenzierten autogenen iPSC ein Teratom entstehen kann. Jedoch geschieht das nur sehr langsam und erfordert große Mengen an iPSC und geeignete Bedingungen.“
Vorerst im Dienst der präklinischen Forschung steht eine Anlage, die schon bald iPS-Zellen vollautomatisiert „am laufenden Band“ erzeugen soll. Dabei arbeiten akademische Institutionen und Privatwirtschaft eng zusammen. Motor der Entwicklung ist der Stammzellspezialist Oliver Brüstle mit seiner Firma Life & Brain GmbH. Daneben sind auch die RWTH Aachen, das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie, die Uniklinik Bonn, das MPI für Molekulare Medizin mit dem Stammzellforscher Hans Schöler sowie Bayer und die HiTec Zang GmbH mit im Boot. Schon in Kürze soll die rund fünf Meter lange Produktionsstraße marktreif sein und dann große Mengen an Zellen produzieren, die zuerst zu iPS-Zellen reprogrammiert, vermehrt und dann zu Nerven- oder Herzmuskelzellen differenziert werden. Rund sechs Mio. Euro Fördergeld sollen dabei helfen, zunächst vor allem bessere Zellmodelle für den Test neuer Therapeutika zu generieren. „Wir konzentrieren uns“, so Simone Haupt von Life & Brain, „auf die Herstellung von 3D-Kulturen von aus iPS-Zellen gewonnenem Hirn- und Herzgewebe.“ Wer im großen Stil zukünftige Medikamente entwickeln will, braucht sehr große Mengen an ausgereiften humanen Zellen. Zellen, die sich aus Biopsien oder mit anderen Kulturtechniken nur schwer generieren lassen. Daher erhoffen sich die Entwickler mit dieser „Stammzellfabrik“ auch einträgliche Geschäfte, nicht nur für den eigenen Forschungsbedarf. Währenddessen richten sich die Augen vieler Stammzellforscher gespannt auf den Ausgang des Versuchs im japanischen Kobe. Vor der Operation wurden die entnommenen Fibroblasten der Patientin im Laufe von zehn Monaten zu iPS-Zellen umprogrammiert und zu retinalen Pigmentepithelzellen differenziert. Takahashis amerikanische Kollegin Jeanne Loring möchte selbst so bald wie möglich mit klinischen Versuchen zum Einsatz differenzierter Nervenzellen bei Parkinson-Patienten starten – sobald die amerikanische Zulassungsbehörde FDA ihr grünes Licht dafür gibt. Trotz aller präklinischen Ergebnisse ist das Risiko unerwünschter Effekte immer noch beträchtlich. Sollten sich etwa statt der Reparatur Tumorherde bilden, würde das den Einsatz von Stammzellen in der regenerativen Medizin um viele Jahre verzögern. Aber auch wenn die „neuen“ Zellen ihrer Trägerin wahrscheinlich nicht mehr ihre Sehkraft zurückbringen werden, so wäre es immer noch ein großer Erfolg, würden sie das Fortschreiten der Krankheit zumindest eine Zeit lang aufhalten.