Wir sitzen im Wohnzimmer einer alten Dame und messen Blutdruck, als sie uns plötzlich Kaffee anbietet. Mein Kollege will gehen – das hier ist kein Notfall. Ich bin da anderer Meinung.
Großstadtszenen während einer Schicht im Rettungsdienst: Die Lichter der Stadt glitzern wie ein Diamantcollier, das durch tausend Lampen angestrahlt wird. Sie verlieren sich in pulsierenden, leuchtenden Fraktalen an Wänden und Dächern. Menschen laufen auf Fußwegen, kreuzen Straßen – mal schneller, mal langsamer. Dann hupt jemand und ein anderer hupt zurück. Im Café gegenüber erschreckt sich ein langhaariger Typ in kariertem Hemd und verschüttet den Cappuccino mit der kunstvoll drapierten schokobepuderten Milchschaumkrone. Die Blondine mit dem roten Kleid daneben kramt in ihrer kleinen Gucci-Tasche und fischt einen großen Schein hervor: Dekadenz einer Metropole.
Autos aller Marken und Größen kämpfen sich über verstopfte Straßen in alle möglichen Richtungen. Ein Hupen hier, ein Quietschen dort und ein elektrisches Martinshorn, das mit einer Pressluftfanfare verschmilzt. Während meiner Schicht im Rettungsdienst kann ich als Notfallsanitäter durch den Spalt im Fenster die Sommerhitze riechen, die der graue Asphalt zurückstrahlt.
Aber die vielen Nischen der Großstadt werfen auch Schatten. Diese fühlen sich für viele, vor allem alte Menschen, an wie die pure Stille – ohne Herzlichkeit, ohne Nähe und ohne die Wärme, die von Menschen ausgehen sollte. In dieser Dunkelheit werden sie oft zur Herausforderung für den Rettungsdienst. Dann, wenn die Sonne untergegangen ist, und wir die alten Menschen in ihrem letzten Lebensbruchteil antreffen, betreten wir Wohnungen, in denen aus Nostalgiegründen jahrelang nichts renoviert wurde. Die Wandtapete mit der knalligen Siebzigerjahre-Bemusterung hat die beste Zeit hinter sich. An der Decke strahlt die Hängeleuchte mit Behang aus Perlmutt und goldfarbenem Metall. Zwei der fünf Glühbirnen wurden irgendwann einfach nicht mehr ersetzt. Bilder mit längst gestorbenen Partnern hängen an den Wänden und stehen in dunklen Vollholz-Regalen. Sie sind die letzten Reste der glücklichsten Zeit zweier Leben.
Es ist drei Uhr vorbei. Die tiefen Falten der alten Dame bewegen sich im Takt ihrer Worte. Sie sitzt in ihrem blassgrünen überdimensionalen Ohrensessel in ihrer anonymen Wohnung eines Wohnklotzes irgendwo in der Münchner Conollystraße und berichtet von ihrem Diabetes, dem Bluthochdruck und dem Zwicken im Kreuz. Auch schwärmt sie vom letzten Besuch bei ihrem Hausarzt und dass das so ein adretter Mann sei. Ihre Kinder machten sich auch rar in letzter Zeit und rufen nicht zurück, wenn sie nur ein paar Worte wechseln möchte. Sie belächelte früher immer Menschen, die keine Kinder haben wollten, erzählt sie. Diese Menschen würden bestimmt mal allein sterben, dachte sie damals und nahm immer an, dass sich ihre eigenen Kinder um sie kümmern würden, wenn sie selbst alt sei.
Jetzt ist sie selbst alt, und es schmerzt, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Dazwischen erzählt sie aber auch von ihrem Mann, dessen Charakter auf fast jedem der Fotos zu erahnen ist, und welch schöne gemeinsame Zeit sie mit ihm fünfzig Jahre lang verbringen durfte.
Mein Kollege misst. Alle Werte sind normal, das EKG wie das einer gesunden Zwanzigjährigen, Lunge und Bauch klingen ebenfalls normal. „Aber was genau ist denn nun Ihr Problem?“, fragt er und nimmt noch das Blutzuckermessgerät aus dem Notfallrucksack. „Ach, junger Mann, alt werden möchte jeder – alt sein will niemand. Aber so ist das nun mal. Möchten Sie denn einen Kaffee oder einen Tee?“, fragt sie in meine Richtung. Mein Kollege rollt mit den Augen und macht eine nickende Kopfbewegung Richtung Wohnungstür. Er will mir wortlos sagen, „Die hat doch nix“ und dass er jetzt gerne wieder auf die Couch vor die Glotze und zu seiner geliebten Serie „Medical Detectives“ zurück möchte.
Ich fixiere ihn mit meinen Augen, obwohl mein Gesicht der alten Dame zugewandt ist. „Gern“, nicke ich ihr zu. An der Schläfe meines Kollegen tritt eine Vene hervor. Der Kaffee schmeckt mir und als die alte Dame von ihrem Leben berichtet, muss ich daran denken, wie häufig wir solche Einsätze haben. Die siebzigjährige Frau Müller zum Beispiel, die in einem Hochhaus im Münchner Randbereich lebte. Auch sie rief immer wieder an, um für eine Zeit einfach nur menschliche Zuwendung zu erhalten. Als wir irgendwann erneut zu ihrer Adresse geschickt wurden, weil sich ihre Essenslieferungen vor der Haustür stapelten, trafen wir auf Nachbarn, die sie nicht einmal kannten und uns keinerlei Auskunft geben konnten. Als wir entdeckten, dass Frau Müller bereits seit zwei Wochen tot auf ihrer Wohnzimmercouch lag, hatten die Nachbarn ihre Haustüren längst wieder geschlossen.
Nach einer guten Stunde verlassen wir die Wohnung der alten Dame. „Wieso waren wir jetzt hier?“, fragt mich mein Kollege und schmollt – habe ich ihn in seinen Augen um seinen wertvollen Schlaf betrogen. Ich konzentriere mich auf meinen Computer und ergänze die Angaben im Anamnesebereich.
Wir können in solchen Situationen eine Menge ausrichten, auch wenn der Rettungsdienst nicht dazu gemacht wurde, um als Zeitvertreib oder Gesprächstherapeut tätig zu sein. Aber manchmal müssen wir im Rahmen unserer Menschlichkeit Hilfe leisten und Wunden versorgen, die eben nicht sichtbar sind; bei Menschen, die sich nicht mehr anders helfen können. Und dies machen wir dann eben beim Kaffee und einem Gespräch – natürlich erst, nachdem wir uns bei der Rettungsleitstelle wieder einsatzklar gemeldet haben.
Mein Kollege tippt mit seinen Fingern irgendeinen Rhythmus auf die Armatur des Rettungswagens und dreht sich mir zu: „Weißt du eigentlich, wie viel Zeit wir gerade in dieser Wohnung verkackt haben?“ Ich überlege einige Sekunden lang, lege meine Stirn in Falten und sehe ihn an: „Weißt du, was Einsamkeit ist?“
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