Immer mehr (junge) Menschen greifen für Individuelle Gesundheitsleistungen in die eigene Tasche. Wie hilfreich diese wirklich sind, zeigt der aktuelle IGeL-Monitor.
Das Gute vorab: Immer mehr junge Menschen möchten gesundheitlich vorsorgen, sich schützen und sind bereit, dafür in die eigene Tasche zu greifen. Die Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) sind derweil für viele der Schlüssel zur Selbstvorsorge. Gut 80% der Bürger sind sich über ihre Existenz im Klaren – über ihren tatsächlichen Nutzen und gar mögliche Schäden hingegen die Wenigsten. So kennen laut Bericht nur 56 % der Befragten mögliche Risiken und Schäden, die durch ausgewählte Leistungen auftreten können. Nur 28 % wissen gar, dass es verbindliche Regeln beim Verkauf von IGeL gibt.
Insbesondere vor dem aktuellen Ergebnis des IGeL-Monitors müsse darauf hingewiesen werden, dass die ärztlichen Angebote bestenfalls nichts bringen und schlechtestenfalls mehr schaden als nützen. So wird von den 55 bewerteten Selbstzahlerleistungen keine einzige als positiv bewertet. Lediglich die Akupunktur zur Migräneprophylaxe sowie die Lichttherapie bei saisonal depressiver Störung seien „tendenziell positiv“. Der Rest habe unklaren medizinischen Mehrwert, sei tendenziell negativ oder klar negativ – darunter „Dauerbrenner“, wie Krebsvorsorgeuntersuchungen für Frau und Mann.
Eben diese Vorsorgeuntersuchungen sind es, die bereits seit Jahren in den Top Ten der verkauften IGeL zu finden sind und auch im vergangenen Jahr am häufigsten an den Patienten gebracht wurden. So wurde laut einer Befragung mit 6.000 Teilnehmern der transvaginale Ultraschall der Gebärmutter und/oder der Eierstöcke 284 mal, der Abstrich zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs 192 mal verkauft. Männliche Patienten griffen 121 mal für die PSA-Bestimmung zur Früherkennung von Prostatakrebs in die Tasche.
Häufigkeiten der angebotenen IGeL im Vergleich 2020 zu 2023. Credits: IGeL-Monitor
Entsprechend der genutzten Angebote sind es auch junge Frauen, die vorrangig für IGeL zahlen. „Die oft jungen Frauen werden völlig unnötig in Angst und Schrecken versetzt. Die Untersuchung hat als Früherkennung keinen Nutzen; sie kann aber definitiv schaden und wird deshalb auch von den gynäkologischen Fachgesellschaften abgelehnt“, sagte Dr. Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Bund.
Unterstützung erhält Gronemeyer vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), das keinerlei Evidenz für einen Nutzen der Leistung finden kann.
Dass der Berufsverband der Frauenärzte auf Ausnahmefälle (darunter für alle Frauen mit Hormonersatztherapie in den Wechseljahren, übergewichtige Frauen sowie Frauen unter Tamoxifen-Therapie) hinweist, in denen eine solche Vorsorge sehr wohl hilfreich ist, mag auf den Charakter der Ausnahmesituation hindeuten. Dass man von den Vorsorgeuntersuchungen nicht erwarte, dass die Mortalität gesenkt werde, sehen auch die Frauenärzte – zumal, wenn es um prozentuale Verbesserungen ginge. So wurden in 6 Studien mit 250.000 Patientinnen nur 71 Karzinome entdeckt.
„Diese Leistung dürfte überhaupt nicht mehr angeboten werden, wenn man Patientensicherheit ernst nimmt“, schließt Gronemeyer und spricht damit die Menge an falsch-positiven Ergebnissen der Untersuchung an. Auf der anderen Seite stehen die Frauenärzte, die sehr wohl einen Mehrwert in dem Angebot sehen.
„Der HTA-Bericht [des DIMDI] stellt eine ausgewogene Beurteilung dar, berücksichtigt die entscheidenden Screeningstudien zur Erkennung des Ovarialkarzinoms und gibt die bisher vorliegenden Daten und Kenngrößen (falsch positiv Rate, positiver Vorhersagewert) korrekt wieder“, erklärt Professor Barbara Schmalfedt, Koordinatorin der gültigen S2-Leitlinie Diagnostik und Therapie des Ovarialkarzinoms.
Auf Platz 2 der IGeL-Dauerbrenner steht die Augeninnendruckmessung zur Glaukom-Früherkennung. Während Augenärzte insbesondere auf die guten Heilungschancen bei der Früherkennung hinweisen, ist für das DIMDI bereits die „Sammelbezeichnung für verschiedene progressiv verlaufende Augenerkrankungen“ – ein Stolperstein, um konkreten Nutzen zu attestieren. Entsprechend lautet das Urteil: „Die Evidenz zur klinischen Effektivität ist nicht ausreichend, um diese Frage zu beantworten. Es liegenkeine randomisierten Screeningstudien vor, mit denen ein Nutzen hinsichtlich vermiedener Sehbehinderungen oder gesundheitsbezogener Lebensqualität belegt werden könnte.“
Die Autoren des IGeL-Monitors gehen noch einen Schritt weiter: „Wir sehen deshalb keinen belastbaren Hinweis auf einen Nutzen der Kombinationsuntersuchung zur Glaukom-Früherkennung. […] Außerdem ist aus vielen anderen Studien bekannt, dass Früherkennungsuntersuchungen immer indirekte Schäden haben können: Sie produzieren Fehlalarme , übersehen Krankheiten und vor allem erkennen sie Krankheiten, die nie Probleme verursacht hätten, die man also gar nicht behandeln hätte müssen. Wenn wir Nutzen und Schaden abwägen, überwiegt also der mögliche Schaden. Deshalb bewerten wir die IGeL mit ‚tendenziell negativ‘.“
Als neue Selbstzahlerleistung stehen die „H.E.L.P.-Apherese“ und „Hyperbare Sauerstofftherapie“ zur Behandlung von Long-/Post-COVID-Erkrankten im Angebot der Ärzteschaft. Die Therapieformen sollen starke Symptome von Patienten, wie Fatigue, Kurzatmigkeit oder kognitive Beschwerden, lindern. Ergeben hat die Literaturrecherche der Wissenschaftler: Keinen belegbaren Nutzen. Zwar seien auch keine nennenswerten Nebenwirkungen bekannt, doch bestehen hohe finanzielle Belastungen der Patienten (bis zu 15.000 Euro für eine Hyperbare Sauerstofftherapie, bis zu 2.300 Euro für 5 Sitzungen bei der HELP-Apherese) durch die verhältnismäßig hohen Kosten.
Dem Urteil des Medizinischen Dienst Bund in seinem IGeL-Monitor schließen sich auch die Fachgesellschaften an, die in ihrer S1-Leitlinie Long/Post-COVID von einer generellen Behandlung mithilfe dieser Therapien absehen. Gleichzeitig werden beide Therapieformen weiterhin in Studien auf ihren Nutzen hin untersucht, wodurch neue Daten und bessere Vergleichbarkeiten zu einer Überprüfung des Nutzenfaktors führen könnten.
Letztlich gibt der IGeL-Monitor jedoch nicht nur ein Bild über den Nutzen medizinischer Therapien ab. Ein weiterer Schwerpunkt war und ist das ärztliche Verhalten, das unter die Lupe genommen wird.
So wurden die Befragten auf den ärztlichen Umgang, die Informationsbereitschaft und das allgemeine Verhalten ihres Arztes hin befragt. Hinaus kam: Kein gutes Zeugnis für die Frauen und Männer in weiß. So berichten die Patienten:
„Die Ärztin reagierte genervt auf meine Weigerung und ich hatte das Gefühl, dass ab diesem Zeitpunkt meine Beschwerden, wegen denen ich letztendlich kam, nicht mehr ernstgenommen wurden.“
„Man spürt den Verkaufsdruck und hatte das Gefühl, nach Ablehnung bestand keine Lust auf eine weitere Behandlung.“
„Bei der Ablehnung der Kostenübername aus finanziellen privaten Gründen empfand ich Geringschätzung meines Gegenübers sowie das Fehlen von Einfühlungsvermögen.“
„Ich wusste am Ende gar nicht, was genau untersucht wurde und was genau ich eigentlich bezahle. Es hieß nur, wollen Sie Krebsvorsorge machen, das kostet halt was.“
„Das Verfahren wurde kaum erklärt, aber als wichtig für ein gutes OP-Ergebnis dargestellt. Da traut man sich nicht, nein zu sagen, weil man hinterher bereuen könnte, nur die Kassenleistung gewählt zu haben.“
Von Seiten der Ärzteschaft sei neben der ohnehin verpflichteten Aufklärungsarbeit vor allem Selbstreflexion und Feinfühligkeit gefordert, so das nichtmedizinische Ergebnis des Berichts. Zwar sei das Gros der Versicherten zufrieden mit ihrem Praxisbesuch, doch die Unzufriedenheit hinsichtlich der IGeL – und der Art ihres Angebtos – steige.
Ebenso habe die Umfrage gezeigt, dass neue Verkaufsmodelle in erster Linie jungen, kaufkräftigen und gesundheitsbewussten Menschen (ab 20 Jahre) angeboten werden. Wie sinnig Kombipakete (beispielsweise eine Blutuntersuchung in Kombination mit einer Ultraschalluntersuchung) und Pauschalangebote (ein Kontingent an festen, vergünstigten (Krebs)Vorsorgeuntersuchungen) für 20–29-Jährige sind, müsse klar, offen und ehrlich kommuniziert werden.
Bildquelle: Piotr Laskawski, unsplash