Die Gründe für eine Zirkumzision sind vielfältig: Religiös motiviert oder medizinisch indiziert, manchmal auch aus hygienischen oder ästhetischen Gründen. Es ist ein brisantes Thema. Bisher gibt es weder gesellschaftlich noch medizinisch einen beständigen Konsens.
Erst im Oktober dieses Jahres musste sich ein Vater vor Gericht verantworten, der seinen siebenjährigen Sohn illegal beschneiden ließ. Das Kind litt nach der Durchführung des Rituals monatelang unter Schmerzen. Der Vater wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, das Verfahren damit eingestellt.
Bis zu einem Alter von sechs Monaten darf die Beschneidung der Jungen auch in Deutschland von einem rituellen Beschneider vorgenommen werden. Anschließend muss der Eingriff von einem Arzt durchgeführt werden. Obwohl man sich beim Thema Beschneindung von Jungen argumentativ auf einem schmalen Grat zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes und dem Recht auf „ungestörte Religionsausübung“ der Eltern bewegt, hat Deutschland juristisch einen ganz eindeutigen Weg gewählt. So ist der Paragraf 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches am 28. Dezember 2012 um zwei Absätze erweitert worden. Nachdem das Kölner Landgericht die religiöse Beschneidung erst als Straftat deklariert hatte, wurde das Urteil wenig später durch den Bundesgerichtshof gekippt. Der Bundestag verabschiedete daraufhin einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die „medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes“ legalisierte, solange diese den „Regeln der ärztlichen Kunst“ entsprechend durchgeführt wird. Frank-Walter Steinmeier (SPD), zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender der SPD-Fraktion, betonte damals, die Gesetzesänderung sei nötig gewesen, um die Rechtssicherheit für Juden und Muslime in Deutschland wieder herzustellen. Dennoch ist die Debatte seitdem keineswegs vorbei. Gegenstimmen gibt es genug.
„Eine nicht-medizinisch indizierte Beschneidung kann auch als Verletzung der körperlichen Unversehrheit aufgefasst werden“, sagt Kinderchirurg Dr. Kolja Eckert vom Universitätsklinikum Düsseldorf. Die Zirkumzision zählt zu den häufigsten chirurgischen Eingriffen beim Mann. Jedes Jahr werden circa 13,3 Millionen Männer weltweit beschnitten.
Wie viele der in Deutschland lebenden Jungen beschnitten sind, ist nicht eindeutig erfasst. So belegt eine Publikation aus dem Jahr 2007, dass 10,9 Prozent der Jungen in den Jahren von 2003 bis 2006 beschnitten wurden. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages bezogen sich im Jahr 2012 auf Zahlen der AOK, die angab, bei 14.000 ihrer Versicherten, die sich 2009 in stationärer Behandlung befunden hatten, sei ein Zirkumzision abgerechnet worden. Die WHO hatte ebenfalls im Jahr 2007 eine Weltkarte zur Beschneidungsprävalenz bei Männern ab 15 Jahren erstellt. Für Deutschland wurde damals angemerkt, dass nur eine Schätzung vorgenommen wurde.
Der wohl häufigste Grund für eine medizinisch indizierte Beschneidung sei die Phimose, erklärt Eckert, wobei in vielen Fällen zwar tatsächlich eine Vorhautverengung vorliege, die jedoch zumeist keine Beschwerden verursache. „Es scheint also, dass die Diagnose Phimose äußert großzügig und die Indikation zur Vorhautentfernung sehr leichtfertig gestellt wird“ , sagt Eckert. Jungen können bis zum Ende der Pubertät eine natürliche Vorhautenge aufweisen, das Präputium ist dann nicht retrahierbar, was dem Schutz der Eichel dient. Viele Eltern verunsichere das, denn auch unter Medizinern habe sich lange das Gerücht gehalten, die Vorhaut müsse bis zum dritten Lebensjahr vollständig zurückzuschieben sein. „Zwischen einer natürlichen und beschwerdefreien Vorhautenge und einer pathologischen Vorhautenge, also einer Phimose, sollte genau unterschieden werden.“
Da Beschneidungen auch häufig außerhalb von Kliniken oder ärztlichen Praxen ohne eine adäquate Anästhesie durchgeführt würden und der Eingriff so schwerwiegende Komplikationen mitsichbringen kann, sei es verständlich, dass einige Ärzte nachgeben und eine Beschneidung zugunsten ihrer jungen Patienten unter klinischen Bedingungen durchführen, so Eckert. Wolfgang Bühmann, Inhaber einer urologischen Privatpraxis, führt die weit verbreitete Ungenauigkeit in der Diagnosestellung auch auf die jahrzentelange Handhabung der Thematik zurück. So hätte der vermeintlich unkomplizierte Ausbildungseingriff lange am Beginn jeder urologischen Laufbahn gestanden, sagte Bühmann anlässlich einer Fachtagung zum Thema Beschneidung in Düsseldorf. Mit der Indikation hätten die jungen Assistenten sich nicht wirklich auseinandergesetzt. „Der Eingriff stand einfach auf dem OP-Plan und jede(r) freute sich, endlich einmal mit dem Skalpell aktiv werden zu dürfen.“
In letzter Zeit scheint sich die Einstellung zum Thema Beschneidung aber teilweise geändert zu haben. Eckert, der bis 2016 am Elisabeth Krankenhaus in Essen tätig war, wertete Zahlen der letzten Jahre aus: Von 2011 bis 2014 wurden dort im Durschnitt 200 Beschneidungen im Jahr durchgeführt, 2015 waren es nur noch 30 und im vergangenen Jahr kam das Klinikum auf 15 Beschneidungen. „Im Grunde ging erst von dem Kölner Gerichtsurtel 2012 ein Signal aus, [den Eingriff] kritisch zu reflektieren“, so Bühmann. Wer nach deutschen Publikationen zu dem Thema sucht, stellt schnell fest, dass es wenig Veröffentlichungen gibt. „Dieses Thema erscheint zu banal und zu wenig relevant, um sich damit intensiver zu beschäftigen“, berichtet Eckert. Aufgrund der gesellschaftspolitischen Brisanz, die dieses Thema automatisch mit sich bringe, rufe eine Beschäftigung damit eher Skepsis und äußerste Zurückhaltung bei Kollegen und Vorgesetzten hervor. „Vor allem, wenn man sich kritisch damit auseinandersetzt.“
Dennoch unternahm Eckert einen Versuch: Gemeinsam mit Kollegen untersuchte er im vergangenen Jahr die Daten von 176 Jungen, bei denen eine Vorhautentfernung durchgeführt worden war. Die Jungen waren zwischen sechs Monaten und 17 Jahren alt. Dabei wurde der klinische Untersuchungsbefund, die Beschwerdesymptomatik, die angewandten konservativen bzw. operativen Therapiemaßnahmen und der histopathologische Befund der resezierten Vorhaut der Jungen berücksichtigt. Die Untersuchung bezieht sich lediglich auf die Daten einer einzelnen kinderchirurgischen Praxis, weshalb die Ergebnisse nicht als repräsentativ einzuordnen sind. Dennoch stimmen sie nachdenklich. Bei 80 Prozent der Jungen war die Vorhaut nicht-retrahierbar – der häufigste Grund, der präoperativ für den Eingriff angegeben wurde. Bei allen Jungen lag also eine medizinische Indikation für die Vorhautentfernung vor, obwohl knapp 80 Prozent der Jungen keine präoperativen Schmerzen aufwiesen.
Ein weiterer Grund, der häufig für eine Beschneidung angeführt wird, sind die verminderten Risiken, sich mit Geschlechtskrankheiten anzustecken oder an einem Peniskarzinom zu erkranken. So unterstützt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit 2007 groß angelegte Initiativen in Afrika, die sich die Beschneidung von Jungen zum Ziel gesetzt hat, um einer Ansteckung mit HIV vorzubeugen. Dabei bezieht sich die WHO unter anderem auf eine Studie, in der es heißt, die Entfernung der männlichen Vorhaut könne das Risiko, sich mit dem HI-Virus zu infizieren, um 60 Prozent senken. Eckert sieht das kritisch: „Zunächst erschließt sich mir kein nachvollziehbarer medizinischer Grund einen Jungen noch vor Erreichen der Geschlechtsreife vor Geschlechtskrankheiten schützen zu wollen“, gibt Eckert zu bedenken. Außerdem bestünde ja nach der Beschneidung immer noch ein 40-prozentiges Restrisiko, weshalb die WHO auch nach der Beschneidung empfielt, Kondome zu benutzen. „Andererseits ist es schwierig, Studien, die in und für Afrika durchgeführt werden, als Argumentationsgrundlage für eine prophylaktische Beschneidung von minderjährigen Jungen zum Beispiel in Europa zu nutzen.“
Tatsächlich ist die Beschneidungskampagne der WHO mitunter stark kritisiert worden. Von mangelhafter medizinische Nachsorge und unvollständiger Aufklärung über die Notwendigkeit von zusätzlicher Verhütung ist die Rede. Sogar Beschneidungen von minderjährigen Jungen ohne Zustimmung und Wissen ihrer Eltern werden von dem VMMC Experience Project, einer Non-Profit-Organisation, berichtet. Abgesehen davon kann die Beschneidung des Mannes allenfalls – wenn überhaupt – ihn selbst vor einer eventuellen Ansteckung schützen, nicht aber die Frau. Auch unter diesem Aspekt ist die Vorgehensweise der WHO fraglich, findet Eckert. Die Studie weist auch einige methodische Schwachpunkte auf. So durften die Männer, die beschnitten wurden, nach dem Eingriff sechs Wochen keinen Geschlechtsverkehr haben. Jene Männer, die nicht beschnitten wurden, liefen also theoretisch sechs Wochen länger Gefahr, sich anzustecken, während die anderen Männer pausierten.
Immer wieder werden auch die Konsequenzen, die eine Vorhautentfernung auf das Sexleben des Mannes haben kann, diskutiert. Bislang ist umstritten, ob das Sexualleben durch eine Beschneidung beeinträchtigt wird. Von Betroffenen liest man in Foren Einträge wie: „Inzwischen ist es, als hätte ich dort eine Art weiches Gummi, gefühlloser als die Stelle auf dem Rücken meines linken Daumens, den ich mir mal versehentlich beinahe abgeschnitten hatte“ oder „ Das mit dem länger können empfinde ich tatsächlich als Qual. Beim Verkehr dauert es teilweise elendig lange, dass ich schnell die Motivation und den Spaß verliere“. In einer Studie von 2006 wurden 159 Männer auf die Empfindsamkeit ihrer Eichel untersucht, 68 Männer davon nicht beschnitten, 91 waren beschnitten. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass die Eichel nach einer Beschneidung deutlich weniger sensibel auf leichte Berührungen reagiert als die eines unbeschnittenen Penis.
Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2013 widerlegt dieses Ergebnis zumindest für die medizinische Beschneidung. So heißt es, eine medizinische Zirkumzision habe keine nachteiligen Auswirkungen auf die Sexualfunktion, Empfindlichkeit oder Befriedigung. Eckert sieht das anders: „Ein Großteil der Nerven befindet sich in der Vorhaut. Ich verstehe nicht, warum man sich rausnimmt, da einfach einzugreifen?“
Sicherlich sei es eine Möglichkeit, medizinisch nicht indizierte Beschneidungen einfach zu verbieten, so Eckert. Doch so leicht ließe sich ein jahrtausendealtes und fest in kulturellen Traditionen verankertes Ritual nicht abschaffen. Ein Verbot könne ein umso beharrliches Festhalten an diesem Ritual hervorrufen. „Meiner Meinung nach sollte das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes über dem der elterlichen Religionsfreiheit stehen.“ Dem schließt sich die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin an, die anlässlich des fünften Jahrestages des Beschneidungsgesetzes eine Pressemitteilung veröffentlicht hat. Beschneidungen veränderten den Körper irreversibel und stünden bei nicht einwilligungsfähigen Jungen nicht im Einklang mit Gesundheitsschutz und Kindeswohl. Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ergänzt, man wisse aus entwicklungspsychologischer Sicht mit Gewissheit zwei Dinge: „Erstens, man tut Kindern nicht weh, man beschädigt sie nicht, weil jeglicher Schmerz Spuren hinterlässt. Zweitens, Erwachsene haben an den Genitalien von Kindern nichts zu suchen. Das gilt auch für Jungen.“
Ist also am Ende doch ein Konsensus in Sicht? Was den Umgang mit Eltern angeht, so sagt Eckert, habe er in der Sprechstunde unterschiedliche Erfahrung gemacht. Viele Eltern, denen eine Beschneidung auch aus religiösen Gründen wichtig ist, würden auch nach einem entsprechenden Gesprächen nach Möglichkeiten suchen, den Eingriff durchführen zu lassen. „Ich glaube, hier bringt nur ein offener und öffentlicher Diskurs etwas, der nach und nach den Blick auf die Thematik bei allen Beteiligten verändern kann. Für mich gilt: als Arzt bin ich zuerst dem kindlichen Wohl verpflichtet und dazu gehört es für mich auch, seine genitale Unversehrtheit zu respektieren. Also werde ich erst dann therapeutisch tätig, wenn tatsächlich ein klinisches Problem besteht. Liegt kein Problem vor, muss auch nicht ge- und behandelt werden.“