Letzte Woche registrierte das Programm AMBOSS über zwei Millionen Kreuze. Seine Praktikabilität erklärt den Marktanteil von über 90 % in der Examensvorbereitung. Das faktische Monopol wirft aber auch Fragen nach Prüfungskultur und Struktur der Wissenslandschaft auf.
Der Aufstieg von AMBOSS ist beeindruckend. Das Programm, das sich an Medizinstudenten richtet und erst im Dezember 2012 auf den Markt kam, nutzten diesen Herbst, laut Unternehmensangaben, mehr als 90 Prozent der Examenskandidaten zur Vorbereitung auf das zweite Staatsexamen. „Das können wir immer noch nicht glauben“, sagt Anna Schuster dazu, die von Anfang an bei AMBOSS bzw. dem Startup Miamed, das sich für das Lern- und Kreuzprogramm verantwortlich zeichnet, mitarbeitete.
Geboren wurde AMBOSS aus der Idee, die bestehenden Kompendien, Lehrbücher und Computerprogramme zur Examensvorbereitung zu ersetzen und ein Programm zu liefern, dass diese – technisch und didaktisch ausgefeilt – vereint. Heute ist das Programm für viele Medizinstudenten das einzig benutzte Medium in der Examensvorbereitung. Selbige besteht seit der Gründung des Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) 1974, das jedes Jahr die 320 schriftlichen Multiple-Choice Fragen des Staatsexamens festlegt, zu einem Gutteil aus dem Lösen von Multiple Choice-Fragen vergangener Examina oder, umgangssprachlich formuliert, aus „Kreuzen“. Der Vorteil von AMBOSS liegt, neben den vielen liebevoll designten und eingepflegten Sonderfunktionen, in der Vernetzung der Wissensbibliothek – die alle examensrelevanten Prüfungsinhalte enthält – mit dem „Kreuzen“ von Altexaminafragen. Darüber hinaus individualisiert AMBOSS das Lernen: Der aktuelle Lernfortschritt in den einzelnen Fächern kann angezeigt werden, eine Statusanzeige informiert darüber, welches Wissen man bereits beherrscht und in welchem Bereich man noch mangelhafte Kenntnisse hat. Aber AMBOSS will noch mehr, so Anna Schuster: „AMBOSS wird oft nur als ein Kreuzprogramm für das Examen wahrgenommen. Das ist nicht unser Anspruch und auch nicht mehr das, was wir abbilden.“ Stattdessen soll AMBOSS als Vorbereitung für Klausuren der klinischen Phase und Famulaturen dienen: Mit dem Angebot der „Oberarztfunktion“ beispielsweise kann man sich Tipps zu klinischen Fragen holen, auf Röntgenbildern lassen sich die für die Diagnose relevanten Areale hervorheben und Lehrvideos sollen das Lernen praktisch-ärztlicher Fertigkeiten unterstützen.
Neben einem Blick auf seine Funktion lohnt es sich, die Rolle von AMBOSS in einer sich wandelnden Wissenslandschaft zu hinterfragen. Hinter AMBOSS steht kein großer Verlag, sondern das Startup Miamed, die bereitgestellten Informationen kommen von über 60 vorwiegend jungen Ärzten. Wolfgang Schweiger, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Uni Hohenheim, Stuttgart, der sich mit Mediennutzung und -wirkung beschäftigt, sieht darin „fast schon eine Piratenaktion.“ Gleichzeitig drückt er seine Sorge um die Qualitätssicherung bei AMBOSS aus. Wie er erläutert, gibt es traditionellerweise zwei Arten der Qualitätssicherung. Nach dem „peer reviewing“ komme das Expertenwissen, vertreten beispielsweise durch Ordinarien in Lehrbüchern. „Diese Art der Qualitätssicherung ist hier ausgehebelt“, so Prof. Schweiger weiter. Anna Schuster nimmt diese Sorge Ernst: „Uns ist sehr bewusst, dass wir eine große Verantwortung tragen. Qualitätssicherung ist uns wahnsinnig wichtig.“ Um das sicherzustellen, werde jede Information, bevor sie in das Programm implementiert wird, von mindestens zwei Ärzten aus dem jeweiligen Fachgebiet geprüft, bei Problemen gehe sie zudem an einen Experten, sprich Oberarzt oder Professor. Zusammen mit dem Feedback der Nutzer sollen so Fehler schnellstens ausgebügelt werden. Dabei hilft weiterhin, dass alle Informationen online stehen, wo ärztliche Mitarbeiter von Miamed direkten Zugang auf sie haben. Zudem kann die angebotene Information so immer aktuell gehalten werden.
Prof. Schweiger zieht weiterhin eine interessante Parallele zu Google. Genau wie Google, mutmaßt er, sei AMBOSS „mehr von der technischen Umsetzung und Bereitstellung von Inhalten getrieben als von den Inhalten selbst.“ Dabei verliere die Weltanschauung und die Information als solche an Bedeutung. Auch Google habe mit dieser Herangehensweise einen Marktanteil von über 90 % (im Bereich von Internetsuchmaschinen) erreicht. Indem es entscheide, was es anzeigt, schaffe es praktisch ein Wissensmonopol im Internet. Und tatsächlich besticht AMBOSS vor allem durch eine geschickte Anordnung und Strukturierung des Wissens, durch Personalisierung, durch sein Design und seine spielerische Bedienung. Die bereitgestellte Information per se könnten auch andere Medien der Examensvorbereitung liefern. Die Verlage jedoch, die selbige zur Verfügung stellen, scheinen in den letzten Jahren wenig Innovatives getan zu haben, um Miamed seinen Marktanteil streitig zu machen. So ist AMBOSS eine typische Erscheinung einer sich wandelnden Wissenslandschaft, in der traditionelle Formen der Wissensverwaltung und Qualitätssicherung zunehmend an Bedeutung verlieren. Als ein gutes Beispiel mag Wikipedia dienen, das ein neuartiges, laut Prof. Schweiger aber „sehr elaboriertes“ System der Qualitätssicherung benutzt, ohne damit in der Qualität seiner Artikel klassischen Enzyklopädien unterlegen zu sein. Dass AMBOSS einen so rasanten Aufstieg erfahren hat und traditionelle Instanzen der Wissensverwaltung und Qualitätssicherung außer Kraft setzt, stimmt dennoch nachdenklich.
Zu bedenken ist auch, dass AMBOSS in einer sehr speziellen, an medizinischen Fakultäten herrschenden Kultur der Wissensvermittlung und -überprüfung entstanden ist. Ohne Multiple-Choice-Fragen, deren Inhalt sich stark an den Schwerpunkten vergangener Examina orientiert, würde es AMBOSS heute vielleicht nicht geben. Dabei hätte es viele Vorteile, andere Formen der Wissensvermittlung und -überprüfung zu finden. In ihnen könnte man beispielsweise, wie Prof. Schweiger anregt, besser thematisieren, dass ärztliches Handeln immer auch Abwägen zwischen Schaden und Nutzen ist, Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten des ärztlichen Handelns könnten besser verarbeitet werden. Julia N., die Medizin und Soziologie an der Universität Leipzig studiert, ergänzt: „Ich glaube daran, dass eine andere Prüfungskultur Diversität im Lernen fördern würde.“ Dass nun ein Programm faktisch ein Wissensmonopol besitzt, könnte jedoch einen negativen Einfluss auf genau diese Diversität des Lernens haben. „Wenn sich alle Examenskandidaten mit demselben Programm auf ihr Examen vorbereiten, verschwindet zwangsläufig die Diversität in Didaktik und Wissensaneingnung“, sagt Julia. Vielleicht verschwindet so über kurz und lang die Lerngruppe, in der die verschiedenen Mitglieder sich zu lernenden Inhalten mit der Didaktik verschiedener Standardlehrwerke nähern, ganz im Sinne eines „[...] in meinem Buch ist die Diagnostik der metabolischen Azidose besonders gut hergeleitet.“