Laut neuer Leitlinie sollten Ärzte Patienten mit Schlafapnoe und Depression regelmäßig auf Bluthochdruck screenen. Was es sonst noch Neues gibt, lest ihr hier.
Die arterielle Hypertonie ist die häufigste chronische Erkrankung, die zu Komplikationen wie Schlaganfall, Demenz, Herzinfarkt, Herzinsuffizienz und Niereninsuffizienz führen kann. Ende Mai 2023 wurde in Mailand auf dem Kongress der European Society of Hypertension (ESH) die neue Bluthochdruckleitlinie der ESH vorgestellt. Sie definiert zahlreiche neue Risikofaktoren und Komorbiditäten für das Vorliegen einer arteriellen Hypertonie. Es wurde auch die Unterteilung der Hypertonie in drei Klassen anhand des Grads der bereits eingetretenen hypertonieassoziierten Organschädigungen stärker in den Vordergrund gerückt. Im Hinblick auf die Zielwerteinstellung definiert die Leitlinie einen Maximalwert. Sie lässt ansonsten Ärzten Handlungsspielräume, die Therapie je nach individuellem Risiko zu intensivieren. Die neue Leitlinie ersetzt die von 2018.
Erstmals wurden in der Leitlinie auch Schlafstörungen (inkl. obstruktivem Schlafapnoesyndrom), COPD, chronische inflammatorische Erkrankungen, nicht alkoholische Fettlebererkrankung (NASH), chronische Infektionen (inkl. COVID-19), Migräne und Depression als Risikofaktoren für eine arterielle Hypertonie erwähnt. Bei Menschen mit diesen Erkrankungen sollte regelmäßig eine Früherkennungsuntersuchung von Bluthochdruck erfolgen. Auch Luftverschmutzung, Bluthochdruck oder bluthochdruck-assoziierte Komplikationen während der Schwangerschaft (Präeklampsie/Eklampsie), ein frühes Einsetzen der Menopause und ein Migrationshintergrund werden als Risikofaktoren diskutiert, ebenso wie die geschlechtsangleichende Hormontherapie bei transsexuellen Menschen. Zudem werden Geschlechterunterschiede bei der Bluthochdruckpathophysiologie und -epidemiologie als neues Thema aufgenommen.
„Es ist wichtig, diese Zusammenhänge zu kennen und bei Menschen mit diesen Diagnosen auch gezielt auf Bluthochdruck zu screenen bzw. bei bekannter Hypertonie das erhöhte kardiovaskuläre Risiko der Betroffenen im Hinterkopf zu behalten“, so Prof. Markus van der Giet, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hochdruckliga. Aus seiner Sicht ist es wichtig, dass alle Ärzte die neuen Risikofaktoren kennen und bei Betroffenen regelmäßig Blutdruckmessungen durchführen. Zudem sollten seiner Meinung nach alle Patienten mit Risikofaktoren auf die Gefahr von Bluthochdruck hingewiesen und zu Präventionsmaßnahmen ermuntert werden – vor allem zu einer gesunden, salzarmen Ernährung, einer Gewichtsreduktion und ausreichend Bewegung, aber auch Achtsamkeit zur Stressreduktion.
Die Bluthochdruckdefinition wurde jetzt systematisch um Stadien erweitert. Bei Bluthochdruck im Stadium 1 handelt es sich um eine unkomplizierte Bluthochdruckerkrankung, die noch nicht zu Organschäden geführt hat. Das Stadium 2 liegt vor, wenn bereits leichte Organschädigungen durch Bluthochdruck erkennbar sind, z. B. wenn eine bluthochdruckassoziierte chronische Nierenkrankheit (CKD) Grad 3 vorliegt oder wenn begleitend zum Bluthochdruck ein Diabetes mellitus auftritt. Bei Stadium 3 liegen bluthochdruckassoziierte Herz- oder Gefäßkrankheiten oder eine fortgeschrittene chronische Nierenerkrankung (CKD Grad ≥ 4) vor.
„Diese Stadieneinteilung gab es auch schon vorher, war aber bisher in den Risikokalkulatoren versteckt zu finden. Sie ist bedeutsam, da sie das Risiko eines unbehandelten Bluthochdrucks klar vor Augen führt und auch die besondere Schwere bei bereits eingetretenen Endorganschäden darstellt. Noch immer ist vielen Menschen nicht klar, dass es sich bei Bluthochdruck um eine ernsthafte Erkrankung mit schweren Spätfolgen handelt. Durch die Herausstellung der Klassifikation wurde dies jetzt deutlich sichtbarer gemacht“, erklärt van der Giet.
Die neue ESH-Leitlinie empfiehlt zudem bei der Erstdiagnose einer arteriellen Hypertonie die Erhebung der Nierenfunktion (eGFR nach CKD-EPI (Chronic Kidney Disease Epidemiology)-Formel), einen Ultraschall der Nieren sowie die Bestimmung des Albuminverlusts über die Niere im spontanen Morgenurin. Bei Hypertoniepatienten, die bei Erstdiagnose keine hypertonieassoziierten Organschäden aufweisen, empfiehlt die Leitlinie alle drei Jahre die erneute Durchführung der Screeninguntersuchungen. Bei Patienten mit vorbestehenden Schädigungen sollte das Screening engmaschiger erfolgen, wobei die Leitlinie keine klaren Zeitangaben macht.
Eine medikamentöse Therapie sollte immer bei Werten von über 140/90 mm Hg initiiert werden. Gesenkt werden sollte der Blutdruck aber zunächst bei allen Patienten auf Werte unter 140/80 mm Hg. Es wird empfohlen bei erwachsenen Menschen unter 65 Jahren sowie bei älteren, die es tolerieren, den Blutdruck weiter auf Werte unter 130/80 mm Hg zu senken. Eine Senkung auf Werte von unter 130/70 mm Hg ist zwar mit einem noch besseren Therapieergebnis verbunden, sollte aber nur erfolgen, wenn die Patienten unter einer intensiveren Therapie keine Nebenwirkungen entwickeln, die sie nicht tolerieren können.
Die große Sorge der Autoren ist, dass Patienten aufgrund von Nebenwirkungen ihre antihypertensive Medikation am Ende gar nicht einnehmen. „Diese Zielwertdefinition ist eine pragmatische Lösung, die auch der Behandlungsrealität entgegenkommt.“ Van der Giet freut sich daher über den Spielraum, den die neue Leitlinie im klinischen Alltag nun zulässt.
Generell soll vor der Initiierung einer medikamentösen Therapie immer eine individuelle Risikoeinschätzung erfolgen. Zur Abschätzung des kardiovaskulären Gesamtrisikos werden in den neuen Leitlinien der SCORE2 bzw. SCORE2-OP (für ältere Patienten) empfohlen. „Nur so ist eine risikoadaptierte Bluthochdrucktherapie möglich“, erklärt van der Giet. Bei Personen über 40 Jahre sowie jüngeren Menschen, die Risikofaktoren aufweisen, sollte einmal pro Jahr der Blutdruck gemessen werden. Hinsichtlich der Messung des Blutdruckes zur Diagnostik oder Therapiekontrolle wird zusätzlich zur Blutdruckmessung in der Praxis auch die Selbstmessung stärker empfohlen als in den Leitlinien von 2018.
Zu den 5 Erstlinienmedikamenten zur Senkung der arteriellen Hypertonie gehören: ACE-Hemmer, Angiotensinrezeptorblocker, Diuretika, Kalziumkanalblocker und Betablocker. Diese Substanzen sollten als duale Fixkombination zum Einsatz kommen, da hierdurch die Tablettenlast reduziert und die Compliance der Patienten verbessert werden kann. Sollte es unter optimaler medikamentöser Therapie nicht gelingen, den Blutdruck einzustellen, kann eine renale Denervation in Erwägung gezogen werden. Im Hinblick auf die neue, konsistente Evidenzlage zur Effektivität und Sicherheit wird die renale Denervation als sichere, additive Therapieoption bei ausgewählten Patienten mit schwer einstellbarer arterieller Hypertonie empfohlen, die neben Lebensstilmodifikationen und medikamentöser Therapie eingesetzt werden kann. Es wird empfohlen, die renale Denervation in spezialisierten Zentren durchführen zu lassen.
„Alles in allem stellt die neue Leitlinie eine wichtige Weiterentwicklung des bisherigen Therapiestandards dar, die auch gesellschaftliche Änderungen reflektiert. Darüber hinaus lässt sie den Ärztinnen und Ärzten etwas mehr Handlungsspielraum bei der Wahl der individuellen Behandlungsziele, sensibilisiert aber gleichzeitig für die Gefahren eines unzureichend eingestellten Bluthochdrucks. Die Deutsche Hochdruckliga begrüßt die neue Leitlinie und wird sich dafür einsetzen, dass sie schnell in der Behandlungspraxis umgesetzt wird“, so das Resümee des Vorstandsvorsitzenden der deutschen Hochdruckliga.
Fünf Tage nach Erscheinen der 2023 ESH Guidelines for the Management of Arterial Hypertension wurde die Nationale Versorgungs-Leitlinie (NVL) Hypertonie veröffentlicht. Der Zielwert für Hypertonie, den die NVL angibt, beträgt < 140/90 mmHg. Ebenso wie die Leitlinie der ESH gibt die NVL dadurch Spielraum für eine patientenindividuelle Therapie. Die Untergrenze definieren beide Leitlinien mit 120/70 mmHg.
Beim Vergleich der Zielwerte beider Leitlinien fällt allerdings eine Diskrepanz um 10 mmHg beim diastolischen Zielwert auf: Die NVL definiert 90, die ESH 80 mmHg. Prof. Oliver Vonend, Mitglied im Vorstand der Deutschen Hochdruckliga, hält diesen Unterschied für wenig praxisrelevant. Seiner Meinung nach sei das Entscheidende für die kardiovaskuläre Risikosenkung der systolische Wert. Der Unterschied erkläre sich dadurch, dass die ESH-Leitlinie unter Beteiligung der internationalen nephrologischen Fachgesellschaften entstanden sei und ein erhöhter diastolischer Wert häufiger mit dem Vorliegen einer Nierenerkrankung assoziiert sei.
Ein weiterer diskreter Unterschied ergibt sich im Hinblick auf die Nierenfunktionsprüfung. Hier empfiehlt die ESH-Leitlinie bei allen Patienten mit Hypertonie neben Erfassung der eGFR auch die Albuminuriemessung. Die neue NVL Hypertonie empfiehlt diese Urinuntersuchung ebenfalls. Obligat soll sie bei Patienten mit Hypertonie und gleichzeitig bestehender chronischer Nierenkrankheit (CKD) erfolgen. Bei Nierengesunden mit Bluthochruck wird die Analyse der Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio jedoch auch empfohlen – hier allerdings in etwas geringerer Empfehlungsstärke („sollte“ statt „soll“).
Auch, wenn sich die beiden Leitlinien in Nuancen unterscheiden, stimmen sie in vielen wichtigen Aspekten überein. Eine Besonderheit in diesem Jahr ist, dass die letzten Versionen der europäischen Leitlinien bislang immer gemeinsam von der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) sowie der Europäischen Gesellschaft für Hypertonie (ESH) verfasst wurden. In diesem Jahr wird es erstmals seit einigen Jahren separate europäische Leitlinien geben. Die Vorstellung der ESC-Leitlinien im Jahr 2024 bleibt also noch abzuwarten.
2023 ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. The Task Force for the management of arterial hypertension of the European Society of Hypertension Endorsed by the European Renal Association (ERA) and the International Society of Hypertension (ISH). J Hypertens. 2023 Jun 21. doi: 10.1097/HJH.0000000000003480. Epub ahead of print. PMID: 37345492.https://journals.lww.com/jhypertension/Abstract/9900/2023_ESH_Guidelines_for_
Nationale VersorgungsLeitlinie Hypertonie (2023). Abrufbar unter https://www.leitlinien.de/themen/hypertonie
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