Es ist früher Morgen, als Karolins Wagen sich um den Laternenmast an der Straße wickelt. Die Airbags lösen aus, das Auto qualmt. Jetzt muss alles schnell gehen – und die geschockten Ersthelfer werden zu Lebensrettern.
Ihre Erinnerungen an den 10. Juni 2014 waren die Klippen ins synaptische Niemandsland hinuntergestürzt. Auch wie ihr dunkler Golf von der linken auf die rechte Spur zog und geradewegs auf den Laternenmast zusteuerte. Dann schlug er mit einem Knall ein, knickte die Laterne um wie ein Streichholz und holte einige Menschen auf ihrem Weg in die Arbeit aus ihrer morgendlichen Lethargie. Der Dampf der Kühlerflüssigkeit stieg aus dem Motorraum auf und vermischte sich mit dem Rauch der ausgelösten Airbags an diesem sommerlichen Morgen, der Karolin Bartels Leben für immer veränderte und der eine Szene abbildete, wie es ein Actionfilm nicht besser hätte machen können.
Etliche Fahrzeuge, die Karolins Unfall im langsamen Baustellenverkehr gesehen haben mussten, fuhren einfach weiter. Zwei Autos jedoch hielten. In einem der beiden Fahrzeuge befanden sich Wolfgang und seine Frau Pia. „Sind die bescheuert? Warum steigt da keiner aus?“, rief er noch und zog an seinem Türgriff. Im zweiten Fahrzeug saßen Sebastian und Charlien, beide ebenfalls auf dem Weg zur Arbeit1,2. Sebastian hatte einige Tage zuvor die Prüfung zum Einsatzersthelfer der Stufe A der Bundeswehr bestanden und befand sich sofort im Notfallmodus, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Die vier Zeugen liefen nach vorn zur Unglücksstelle. Sebastian Brehm öffnete die Fahrertür. Jemand rief dem Fahrer eines weiteren Pkw direkt hinter dem Unfall zu, dass er den Notruf wählen solle. Der Mann, der zufällig ein Kollege der verunglückten Karolin war und den Unfall ebenfalls beobachtet hatte, stand unter Schock. Aber dann griff er sein Telefon und wählte die 112. Karolin rang nach Luft. Charlien, die mit ihrem Mann im zweiten Fahrzeug gesessen hatte stand bei ihr. Immer wieder sagte sie ihr, alles werde gut und versuchte sie zu beruhigen. Dann atmete Karolin plötzliche sehr schnell – vielleicht war das bereits die sogenannte Schnappatmung, ausgelöst durch die herzstillstandinduzierte Hypoxie. Ab jetzt tickte die Uhr für Karolin, die mit jeder Sekunde im kardialen Arrest ihr Leben zu verlieren drohte.
Die Helfer holten Karolin aus dem Auto und legten sie auf den Boden. Sebastian suchte nach der Mitte des Brustkorbes. Dort liegt der Druckpunkt für die Herdruckmassage. Dann, mit ausgestreckten Armen senkrecht fünf bis sechs Zentimeter Drucktiefe, fing er mit der Wiederbelebungsmaßnahme an. Die Geschwindigkeit von Songs wie „Stayin’ Alive“ dienen mit 100 bis 120 bpm als Hilfe für die korrekte Geschwindigkeit bei der Herzdruckmassage3. Und Sebastian drückte so effektiv, dass das Atemzentrum sogar zwischendurch mit Schnappatmung reagierte.
Wolfgang, aus Auto Nummer eins, übernahm die Beatmung. Obwohl den Helfern die Zeit wie eine Ewigkeit vorkam, traf der Rettungswagen bereits vier Minuten nach Notrufeingang ein. Die Sanitäter übernahmen, schnitten Karolins Kleidung auf und klebten Defibrillationselektroden auf den Brustkorb. Dann das Hochladen des Defis und der lebensrettende Schock, der Karolin wieder zurückholte in ein Leben, das auch lebenswert blieb. Sie gehört damit zu den Wenigen, die Ersthelfern und einer reibungslos funktionieren Rettungskette ihr Leben verdankt.
Wieso es zu dem Autounfall kam, wird man nie genau klären. Bekannt ist aber, dass der Herzmuskel von Karolin durch den Aufprall irreparabel beschädigt wurde. Bei nur 40 km/h entstand ein Thoraxtrauma mit Lungen- und vermuteter Herzkontusion. Dazu kam der Nachweis einer subendokardialen Fibrose des linken Ventrikels, inferolateral direkt hinter dem posterioren Papillarmuskel – eine Narbe an der Herzhinterwand durch den Aufprall. Karolin leidet seitdem an früh einfallenden ventrikulären Extrasystolen. Seit den ersten Defischocks kommt es immer wieder zu Kaliumentgleisungen. Die ventrikulären Extrasystolen führen bei ihr, in Kombination mit entgleistem Kalium und der Einwirkung des Sympathikus, zum Kammerflimmern. Daraufhin wurde eine Sympathektomie durchgeführt. Ein ICD beendet seit 2015 zudem diese Episoden regelmäßig und rettet ihr Leben – wieder und wieder.
Was bleibt, ist einmal mehr die Erkenntnis, dass der Kampf des Rettungsdienstes gegen die Zeit ohne handlungsfreudige Ersthelfer nahezu aussichtslos ist. Auch in diesem Fall hatte der Rettungswagen lediglich vier Minuten nach Notruf an die Einsatzstelle gebraucht, was eine hervorragende Zeit darstellt. Dazu kommen aber die Chaos- und Orientierungsphase, die Dauer des Notrufes und die ersten Maßnahmen am Patienten. Bis ein Rettungswagen eintrifft, vergehen in der Regel deutlich mehr als vier Minuten nach Ereignisbeginn. In dieser Zeit verliert jeder Rettungsdienst den Kampf gegen den Tod.
Deswegen soll diese Geschichte motivieren. Sie soll Leserinnen und Leser dazu anregen, nicht wegzusehen, wenn ein Unglück passiert. Sie soll aufzeigen, welches Glück man erzeugt, wenn man nur beherzt eingreift und nicht wegsieht, sich fortbildet und einen Reanimations- oder Erste-Hilfe-Kurs besucht. Und hierbei geht es nicht um das Strafrecht, sondern es geht um Moral und die Tatsache, dass es einen auch selbst erwischen kann und man froh um jede Hilfe ist. Wären Sebastian, Charlien, Wolfgang und Pia einfach vorbeigefahren und hätten Karolin ihrem Schicksal überlassen, hätte die Chronologie eines Herzstillstandes trostlos ausgesehen:
Minute 0: Der Pkw trifft auf die Laterne, es entsteht ein Hochrasanztrauma mit schwerer Thoraxverletzung. Das beschädigte Herz reagiert mit einer defibrillationspflichtigen Herzrhythmusstörung.
Minute 1, Herzstillstand: Bei Karolin sterben bereits Gehirnzellen ab.
Minute 3 ohne Maßnahmen: Sie zieht ein Bein nach und kann einen Arm nicht mehr bewegen oder auch nicht mehr richtig sprechen.
Minute 4: Irreparable Hirnschäden treten ein, die nicht mehr behebbar sind.
Minute 8: Es besteht für sie keine Chance mehr, in ein bewusstes Leben zurückzukehren.
Minute 10: Karolin wäre gestorben.
Aber so kam es nicht. Karolin hat ohne neurologische Defizite überlebt, konnte ihren Alltag weiterführen und lernte nach dem Unfall ihren späteren Mann kennen. Ein Happy End, dass nur durch das Eingreifen mutiger Leute möglich war, die nicht nur gegafft oder gefilmt haben. Die Ersthelfer haben keine Sekunde gezögert und Karolins Leben gerettet.
Eines ist sicher: Wir brauchen unbedingt mehr davon!
Quellen
1. Bischof, C. (13. Oktober 2017). Nach Unfall Verletzte versorgt: Stadt ehrt die Lebensretter. Wolfsburger Allgemeine Zeitung.
2. Giesecke, S. (13. Oktober 2017). Junge Ehmerin hat vier Schutzengel. Wolfsburger Nachrichten.
3. European Resuscitation Council. (24. 05 2023). German Resuscitation Council - Deutscher Rat für Wiederbelebung. Von https://www.grc-org.de/wissenschaft/leitlinien abgerufen
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