Ein Mann kommt in die Klinik mit Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Diarrhoe und deutlichem Gewichtsverlust. Bei der Anamnese finden die Ärzte heraus, dass er eine „Vitamintherapie“ eines Ernährungsexperten hinter sich hat – und ahnen Böses.
Trotz bescheidener Evidenz ist der Glaube an immun- und leistungssteigernde, bisweilen sogar heilende Effekte von regelmäßig konsumierten Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) weit verbreitet. Aggressive Vermarktung und ubiquitäre Verfügbarkeit – vom Wellnessregal im Discounter bis zum OTC-Produkt in der Apotheke – beschert den Herstellern hohe Umsatzahlen.
Rechtlich handelt es sich bei NEM um Lebensmittel, die im Gegensatz zu Medikamenten kein Zulassungsverfahren mit Unbedenklichkeits- und Wirkungsnachweis durchlaufen müssen. Deklaration durch die Hersteller genügt. Weder Dosisbeschränkungen noch Hinweise auf mögliche Wechselwirkungs- und Überdosierungsrisiken sind vorgeschrieben. Einzig mit medizinischen Wirkungen darf nicht geworben werden. Als Nahrungsergänzung – ob im Einzelfall sinnvoll oder nicht – sind sie für Gesunde konzipiert, bei ärztlich diagnostiziertem Mikronähstoffmangel auch für die gezielte, individuell dosierte Supplementation geeignet. Welche Risiken bei „pseudomedizinischer“ Multi-NEM-Therapie drohen, zeigt eine 2022 im British Medical Journal publizierte Kasuistik.
Ein Mann im mittleren Lebensalter (genaue Altersangabe fehlt) stellt sich mit Überweisung vom Allgemeinmediziner in einer britischen Klinik wegen eines multiplen, seit drei Monaten andauernden Symptomspektrums vor. Neben wiederholten gastrointestinalen Beschwerden mit Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Diarrhoe und konsekutivem Gewichtsverlust (fast 13 kg in 3 Monaten), verstärktem Durst und Mundtrockenheit klagt er über Beinkrämpfe sowie einen Tinnitus.
Die klinische Untersuchung zeigt einen kachektisch wirkenden Patienten mit diffuser abdomineller Druckdolenz. Vitalzeichen sind unauffällig. In der polypathischen Anamnese finden sich eine durch Mycobacterium bovis ausgelöste Spinal-TB, ein operiertes linksseitiges Vestibularis-Schwannom mit Hörverlust, ein Shunt-versorgter Hydrozephalus, eine bakterielle Meningitis und chronische Rhinosinusitis.
Die aktuelle Mehrfachsymptomatik hat nach Schilderung des Patienten etwa einen Monat nach Beginn einer „Vitamintherapie“ begonnen, die von einem „privaten Ernährungsberater“ (fachlicher Hintergrund unbekannt) empfohlen worden sei. Trotz sofortigen „Therapie“-Abbruchs persistierte die Symptomatik seit drei Monaten.
Die Vitamintherapie umfasste die tägliche Einnahme eines Potpourris aus mehr als 25, größtenteils hoch dosierten NEM:
NEM-Mischung Case
Tagesdosis
Referenzwert (D-A-CH)
Gesamtaufnahme/Tag (25–51 J)
Vitamin D
150.000 IE ≙ 375 µg
800 IE ≙ 20 µg (bei fehlender Eigensynthese)
Vitamin K2
100 µg
60–70 µg (K gesamt)
Vitamin C
k. A.
95 mg (♀), 110 mg (♂)
Vitamin B9 (Folat)
1.000 µg
300 µg
Vitamin B2 (Riboflavin),
1,1 mg (♀), 1,4 mg (♂)
Vitamin B6
1,4 mg (♀), 1,6 mg (♂)
Vitamin B3 (Niacin)
50 mg
12 mg (♀), 15 mg (♂)
Super-B12-Komplex
4 µg (B12)
Omega-3-FS
4.000 µg
200–500 µg
Selen
60 µg (♀), 70 µg (♂)
Bioaktivator (?)
–
Zink(-picolinat)
15 mg
7–10 mg (♀),11–16 mg (♂)
Lugols Jodtropfen (15 %)
1 Tr.
200 µg
Borax (Na-Tetraborat-Decahydrat)
L-Lysin
500 µg
1.000–1.500 µg
N-Acetylcystein
600 mg
Taurin
1–2 g
Glycin
1 g
Wobenzym N400
Astaxanthin Softgel
18 mg
(max. 8 mg)
Magnesiummalat
Magnesiumcitrat
1.000 mg
1.480 mg
300 mg (♀), 350 mg (♂)
Cholin (+ Inositol)
100 mg
(400 mg, inoffiziell)
Calcium(-orotat)
Probioticum
Glucosamid-/Chondroitin-Komplex
Natriumchlorid
6.000 mg
Die massive Mikronährstoff-Überdosierung blieb nicht ohne Folgen. Die bereits vom Hausarzt mitgelieferte Serologie zeigte einen erhöhten Serumkalziumspiegel (Albumin angepasst) von 3,9 mmol/L (Ref.: 2,2–2,6), eine akute Niereninsuffizienz mit einem Serumkreatinin von 166 µmol/L (Ref.: 64–106) und einem Harnstoffwert von 13,4 mmol/L (Ref.: 2,5–7,8). Besonders drastisch war der Serum-Vitamin-D-Spiegel auf > 400 nmol/L (Ref.: > 50) erhöht. Der serielle Wert verharrte auch nach Einstellung des NEM-Konsums auf gelichbleibend hohem Niveau.
Im CT zeigten sich bilateral kalzifizierte Knoten in den Lungenoberlappen (verstärkte Ausprägung im rechten Apex) sowie in der Milz (Granulomtyp).
Weitere Untersuchungen einschließlich Bildgebung (MRT, PET) lieferten keine Hinweise auf systemische Infektionen oder maligne Aktivität. Die gestellte Diagnose: „Vitamin-D-Intoxikation mit schwerer Hyperkalzämie als Folge eines Multi-NEM-Abusus“.
Während einer achttägigen stationären Behandlung erfolgten eine intravenöse Rehydratisierung, die Einleitung einer oralen Bisphosphonat-Medikation sowie diätetische Beratungen. Nach dem Klinikaufenthalt wurde die Einnahme von Bisphosphonat und einem Antiemetikum fortgeführt. In der serologischen Nachuntersuchung, zwei Monate nach Entlassung, zeigte sich ein auf Referenzniveau gesunkener Serumkalziumspiegel, wohingegen die Vitamin-D-Serumkonzentration auf unverändert hohem Niveau von über 400 nmol/L stagnierte, was vermutlich der langen Halbwertzeit (über zwei Monate) geschuldet ist. Für beide Werte wurde ein ambulanter Überwachungsplan vereinbart.
Die Diskussion um das Vitamin, das eigentlich gar keines ist, erhitzt auch in Fachkreisen nicht selten die Gemüter – besonders wenn es um den Nutzen der prophylaktischen Vitamin-D-Supplementierung geht. Die hohe, unserer sonnenarmen Lebensweise geschuldeten Prävalenz einer – nicht immer klinisch relevanten – Unterversorgung ist bekannt. Konsens besteht aber darüber, dass eine unkontrollierte Supplementierung nach dem Tsunamiprinzip insbesondere für die fettlöslichen Vitamine hoch risikobehaftet ist. Da macht auch das „Sonnenhormon“ keine Ausnahme.
NEM sind keine harmlosen Heilsbringer, sondern ein potenziell toxisches Experimentierfeld. Ganz besonders gilt das bei medikamentenpflichtigen Vorerkrankungen. Es besteht ein erheblicher Aufklärungs- und Reglementierungsbedarf. Der naive „Kann ja nicht Schaden“-Mythos“, der drei von vier Erwachsene in Deutschland (Statista Global Consumer Survey, 2022) ohne ärztlich diagnostizierten Mangel zu teils hoch dosierten NEM unterschiedlichster Couleur greifen lässt, schreit nach lautstarker fachkundiger Informationsvermittlung. Bezüglich des Gefahrenpotenzials durch Überdosierung und Wechselwirkungen (insbesondere bei Medikamenteneinnahme) besteht in weiten Bevölkerungsteilen eine massive Wissenslücke, die selbsternannte Ernährungsexperten und NEM-Hersteller insbesondere über die sozialen Netzwerke lukrativ zu nutzen wissen.
Ohne gesetzliche Reglementierungen mit Konzentrationsobergrenzen für Nährstoffpräparate, verpflichtende Hinweise auf Überdosierungsrisiken und konkrete Wechselwirkungen wird es nicht gehen. Die dringende Empfehlung muss lauten, keine längerfristige Supplementierung ohne ärztliche Indikation und Kontrolle zu praktizieren, und sie muss prominent verbreitet werden. Die gesamte Aufklärungsarbeit allein der ausgelasteten Ärzteschaft und geschulten Beratern zu überlassen, wird nicht reichen. Zumal die Mahnungen echter Experten wie Kassandrarufe verhallen. Der fachkundige Rat hat heute einen schweren Stand – wo doch ein Heer von gut bezahlten, aber ahnungslosen Influencern genau vorgibt, was wir konsumieren sollten.
Bildquelle: K. Mitch Hodge, Unsplash