Warum erleiden Patienten ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren Herzinfarkte oder Schlaganfälle? Sind die vermeintlich harmlosen Werte beim LDL-Cholesterin schuld? Für den Kardiologen Michel de Lorgeril ist das Theater um die Blutfette eher ein Bluff der Pharmaindustrie.
Erhöhte LDL-Cholesterinspiegel, Hypertonie, Diabetes mellitus, Übergewicht und Rauchen gehören zu den wichtigsten Risikofaktoren kardiovaskulärer Erkrankungen. Ärzte fragen sich aber, warum Patienten ohne offensichtliche Risikofaktoren gelegentlich Herzinfarkte oder Schlaganfälle erleiden. Das Thema hat auch Forschern zu denken gegeben. Sie vermuten, selbst unauffällig niedrige Werte beim LDL-Cholesterin könnten mit Erkrankungen in Zusammenhang stehen. In Europa führen Blutfette immer noch zu heftigen Kontroversen. Der französische Kardiologe Dr. Michel de Lorgeril bezweifelt, dass Cholesterin mit Atherosklerose in Verbindung steht. Für ihn ist der Trend, hohe Werte mit Statinen einzustellen, nicht mehr als eine Verkaufsmasche der Pharmaindustrie. Leitlinienautoren teilen seine Meinung nicht. Vielmehr geraten sie bei der Frage nach sinnvollen Obergrenzen ins Schwitzen.
„Basierend auf den Ergebnissen kardiovaskulärer Studien sollte bei der Behandlung von Schlaganfallpatienten mit einem Statin ein LDL-Cholesterinwert < 100 mg/dl (< 2,6 mmol/l) angestrebt werden“, heißt es in der S3-Leitlinie zur Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfälle. Gleichzeitig räumen die Autoren ein, aus allen vorliegenden Studien lasse sich „keine direkte Evidenz für diskrete LDL-Cholesterinzielwerte ableiten“. Zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nennt die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie in ihren Pocket Guidelines je nach Risiko des Patienten < 1,8 mmol/l (< 70 mg/dl) bis < 3 mmol/l (< 115 mg/dl). Diese Werte entsprechen Empfehlungen auf europäischer Ebene. An diesen Obergrenzen kommen jetzt erhebliche Zweifel auf, speziell beim Blick auf die Primärprävention
Zum Hintergrund: Ärzte fragen sich schon lange, warum Patienten mittleren Alters ohne klassische Risikofaktoren gelegentlich Herzinfarkte oder Schlaganfälle erleiden. Mit dieser Frage hat sich ein Forscherteam unter Leitung von Leticia Fernández-Friera vom Centro Nacional de Investigaciones Cardiovasculares Carlos III in Madrid eingehend befasst. Sie arbeiteten mit Daten aus der PESA-Studie (Progression of Early Subclinical Atherosclerosis). Für PESA wurden bis Juni 2010 genau 4.184 Probanden zwischen 40 und 54 Jahren rekrutiert. Die Nachbeobachtungszeit lag bei sechs Jahren. Für ihre weiteren Untersuchungen wählte Fernández-Friera 1.779 Personen mit normalen kardiovaskulären Risikofaktoren aus. Es handelte sich um Nichtraucher mit Blutdruckwerten unter 140/90 mmHg, Nüchternblutglukosewerten unter 126 mg/dl, Gesamtcholesterinwerten unter 240 mg/dl, LDL-Cholesterinwerten unter 160 mg/dl und HDL-Cholesterinwerten über 40 mg/dl. Innerhalb dieser Gruppe fand die Wissenschaftlerin 740 Teilnehmer mit optimalen Parametern. Bei ihnen lagen die Blutdruckwerte unter 120/80 mmHg, die Nüchternblutglukosespiegel unter 100 mg/dl, die HbA1c-Werte unter 5,7 Prozent und das Gesamtcholesterin unter 200 mg/dl. Neben Laborparametern erfassten Ärzte atherosklerotische Läsionen nichtinvasiv per Magnetresonanztomographie beziehungsweise per Positronen-Emissions-Tomographie mit radioaktiver 18-Fluordesoxyglucose (18-FDG). Dieser Marker auf Basis eines chemisch veränderten Zuckers eignet sich nicht nur, um stoffwechselaktive Tumore darzustellen. Bei Atherosklerose als chronisch-entzündlichem Prozess benötigen Makrophagen Energie und resorbieren 18-FDG. Deshalb lassen sich mit der Technologie auch Plaques quantifizieren. Das Ergebnis überraschte: Jeder zweite Studienteilnehmer mit kardiovaskulär normalem Risikoprofil hatte Anzeichen einer subklinischen Atherosklerose. In der Subgruppe mit optimalen Werten waren 38 Prozent von Gefäßablagerungen betroffen. Selbst bei Werten zwischen 60 und 70 mg/dl traten Gefäßablagerungen auf: LDL-Cholesterin war in der vergleichsweise kleinen Kohorte unabhängig von anderen Faktoren mit ersten Anzeichen einer Atherosklerose assoziiert. „Diese Ergebnisse unterstützen eine wirksamere LDL-Cholesterin-Senkung für die Primärprävention sogar bei Individuen, deren Laborwerte üblicherweise als optimal betrachtet werden“, resümiert Fernández-Friera.
Dr. Michel de Lorgeril, Kardiologe am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), greift die Publikation in seinem Blog auf. Er kritisiert die Theorie, Cholesterin sei schädlich für Gefäße, und lehnt Grenzwerte kategorisch ab. Vor einem Jahr sorgte sein TV-Auftritt bei Arte unter dem Motto „Cholesterin – der große Bluff“ für rege Diskussionen im Ärztekreis. Kritik kommt auch von der European Society of Cardiology (ESC). Deren früherer Präsident Professor Dr. Fausto Pinto bewertet Lorgerils Darstellung als „in gefährlicher Weise unverantwortlich“. Zusammen mit Kollegen hat er alle Argumente in einem Konsensuspapier zusammengestellt:
Wissenschaftlich sind die Zusammenhänge damit klar belegt. Eine zentrale Frage bleibt aber offen: Welche Zielwerte sollten nach Fernández-Frieras Arbeit bei der Primärprävention überhaupt erreicht werden? Vijay Nambi vom Baylor College of Medicine in Houson, Texas kann darauf auch keine Antworten geben. In einem Editorial kritisiert er, internationale Leitlinien seien bisher eher auf die Vermeidung neuerlicher kardiovaskulärer Ereignisse nach einem Schlaganfall oder Herzinfarkt ausgelegt. Die Zeit ist reif für große, langfristig angelegte randomisierte Studien.