Big Data – das Schlagwort, das auch vor Medizin und Gesundheitswirtschaft nicht Halt macht. Denn obwohl längst noch nicht alles digitalisiert ist, wächst die Datenmenge auch im Gesundheitssektor exponentiell. Wie gehen wir mit diesen Datenbergen künftig um?
„Es ist wie beim Autofahren: Die Tachodaten müssen absolut aktuell sein, damit sie für mich relevant sind“, sagte Dr. Peter Langkafel bei einem Interview mit der Zeitschrift Klinik Markt inside auf dem Hauptstadtkongress für Medizin und Gesundheit im vergangenen Juni. Genau diese aktuellen Daten seien wichtig, um ein Krankenhaus in die richtige Richtung steuern zu können. Langkafel ist General Manager für Public Services/Healthcare bei SAP Deutschland und hat sich in seinem aktuellen Buch „Big Data in Medizin und Gesundheitswirtschaft“ intensiv mit großen Datenmengen im Gesundheitssektor auseinandergesetzt. „Im Moment analysieren wir die meisten Daten retrospektiv. Fragen also, was ist passiert?“, so Langkafel. Im besten Fall seien Kliniken in der Lage, ihre momentane Lage über die Zusammenführung von Daten zu beleuchten. Langkafel prognostiziert jedoch, dass Big Data noch mehr kann – nämlich Zukunftsmodelle simulieren, die dann beispielweise als Verhandlungsgrundlage der Kliniken mit den Krankenkassen dienen könnten. „Bei vertraglichen Verhandlungen könnten die Krankenhäuser viel schneller modellieren, wie sich die Änderungen auswirken würden“, erklärt der Autor.
Big Data ist gerade im Gesundheitssektor ein wichtiges Thema, denn bei einem einzigen Krankenhausaufenthalt fällt statistisch gesehen bei jedem Patienten eine Datenmenge an, die zwölf Millionen Romanen entspricht. Ohne passende Informationstechnik können solche Datenmengen nicht mehr verarbeitet werden. „In vielen Krankenhäusern gibt es hunderte verschiedene Daten-Applikationen. Erst wenn sich diese zusammenführen lassen, sind die Informationen optimal nutzbar“, so Langkafel. Nach seiner Einschätzung sind bisher jedoch lediglich etwa die Hälfte aller Krankendaten überhaupt digital verfügbar. Der Rest wird nach wie vor handschriftlich dokumentiert oder liegt in einer Form vor, die nur sehr schwer automatisierbar ist. Langkafel erklärt: „Wenn ein Arztbrief als Freitext ohne Vorlage einfach in einem Word Dokument verfasst wurde, sind die Informationen darin nur sehr aufwendig mit automatisierten Systemen auswertbar.“ Hier müsse in Zukunft deutlich optimiert werden, um alle Informationen optimal nutzen und zusammenführen zu können.
Big Data, also der Umgang mit großen Datenmengen, sei keinesfalls ein reines IT-Thema, eher ein strategisches, sagt der Healthcare-Spezialist von SAP. Wichtig sei, dass sich Kliniken bereits heute darüber im Klaren sind, wie sie ihre Organisation in Zukunft aufbauen wollen. „Was brauche ich, um in Zukunft Management, Patienten, Ärzte und Pflegekräfte in der richtigen Situation die richtigen Informationen zur Verfügung stellen zu können?“ sei dabei die zentrale Frage. Dass Big Data ein Schatz sei, der erst noch gehoben werden müsse, sei bei vielen Kliniken noch nicht angekommen. Groß seien die Bedenken bezüglich des Datenschutzes bei derart sensiblen Datenmengen, veraltet die Strukturen der Datenerfassung.
Langkafel bringt dabei auch das „Recht auf Nichtwissen“ zur Sprache. Große Datenmengen lassen sich auswerten, indem Daten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die Schlussfolgerungen daraus und das Wissen darum können das Leben eines Menschen massiv beeinflussen. Ist es da wirklich gut, immer über alles informiert zu sein? Denn für viele Diagnosen oder Diagnosewahrscheinlichkeiten gibt es heute noch keine Therapieansätze. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die vererbte, neurodegenerative Erkrankung Chorea Huntington. Meist erleiden die Betroffenen erst um das 40. Lebensjahr erste Krankheitssymptome. Die Krankheit nimmt immer einen schweren Verlauf und führt im Durchschnitt 15 Jahre nach den ersten Symptomen zum Tod. Doch eine Therapie gibt es bis heute nicht. Ist es für die Betroffenen und ihre Familien wirklich vorteilhaft, bereits in jungen Jahren über ihr Schicksal informiert zu sein?
„Datenschutz, Ethik und Selbstbestimmung sind die großen Themen, die mit Big Data einhergehen“, fasst Langkafel zusammen. Datenschutz könne hier allerdings auch negative Folgen für die Patienten haben: „Wer schützt Daten eigentlich davor, dass sie nicht benutzt werden?“ Langkafel denkt dabei an Patienten, die einen guten Facharzt suchen. Außer auf Empfehlungen von Freunden und zweifelhaften Bewertungsportalen könnten die Patienten auf nichts zurückgreifen, das ihnen versichert, bei einem guten Arzt gelandet zu sein. In diesem Fall sei die Nicht-Nutzung von Daten eine Art Täterschutz, der schwarze Schafe in der Medizin davor bewahre, dass ihre zweifelhaften Behandlungsmethoden an die Öffentlichkeit gelangen. Datenschutz müsse also in einem gesunden Maße und immer im besten Sinne für den Patienten betrieben werden. Doch ist das wirklich immer der Fall?
Die meisten Patienten nutzen sie schon heute, ab 1. Januar 2015 soll die elektronische Gesundheitskarte für alle Patienten Pflicht sein. Für Christian Scholber, Facharzt für Innere Medizin, ist die neue Karte eine „unverantwortliche Datenansammlung“, wie er bei der Podiumsdiskussion zum Thema „Big Data in der Medizin“ am 7. Mai in der Leibniz Gemeinschaft in Berlin äußerte. „Das Problem ist, dass die sensiblen Daten zur Gesundheit nicht auf der Karte selbst gespeichert werden, sondern auf Servern. Wer legal darauf zugreifen darf, entscheidet der Gesetzgeber – und Gesetze können sich ändern.“ Auch vor illegalem Datenerwerb sei der Patient nicht geschützt. Auch Dr. Christian Scholber, Vorstandsmitglied der Freien Ärzteschaft e.V., beschleicht ein ungutes Gefühl, wenn gesundheitsbezogene Daten in großem Stil gesammelt werden: „Wir brauchen in der Medizin zwar eine vernünftige Datenerhebung, doch medizinische Beobachtungen und Diagnosen sind höchstsensible Daten, die nicht auf Servern gehortet werden sollten. Wie leicht diese zu hacken sind und dass das auch getan wird, brauche ich nach dem jüngsten NSA-Skandal nicht zu betonen“, sagte er im Zuge der Podiumsdiskussion. Solche Daten seien besonders für Arbeitgeber oder Versicherer äußerst interessant und könnten für den Patienten bei entsprechender Krankheitsgeschichte zu erheblichen Nachteilen führen.
Und was wird die Zukunft bringen? „Apple hat bereits das Health-Book angekündigt“, so Langkafel. Die zentrale App soll Trainingsprogramme, Diäten oder Überwachung von Körperfunktionen organisieren können. Die technologischen Mittel, um große Datenmengen im Gesundheitsbereich speichern und zusammenführen zu können, seien längst da. Jetzt müsse die Politik entscheiden, inwieweit Krankenkassen und Kliniken bzw. niedergelassene Ärzte Daten – unter entsprechenden Datenschutzrichtlinien - untereinander austauschen.