Viele unterschätzen die Kraft der Nase – dabei spielt das Riechen bei Emotionen, sozialer Bindung und Krankheiten eine große Rolle. Warum auch Ärzte sich mehr auf ihren Zinken verlassen sollten, erfahrt ihr hier.
In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Riechen der am wenigsten wertgeschätzte unserer fünf Sinne. Zwar ist das Riechen durch die Corona-Pandemie stärker in den Fokus gerückt, dennoch unterschätzen viele Menschen offenbar die Bedeutung, die es für unsere Lebensqualität hat.
In einer älteren Studie, an der 7.000 Menschen im Alter zwischen 16 und 30 Jahren aus 7 Ländern teilnahmen (UK, USA, Spanien, China, Indien, Brasilien und Mexiko), gaben 53 % der 16–22-Jährigen an, sie würden lieber ihren Geruchssinn einbüßen, als dauerhaft auf ihr Handy zu verzichten. In einer groß angelegten Studie über die Bedeutung und Aufmerksamkeit für den Geruchssinn im täglichen Leben fanden Forscher (Wrzesniewski et al.) 1999 heraus, dass der vollständige Verlust des Geruchssinns von ihren Probanden mit dem Verlust des kleinen linken Zehs oder des Gehörs auf einem Ohr gleichgesetzt wurde.
Da der Geruchssinn seit der COVID-19-Pandemie große mediale Aufmerksamkeit erlangte, untersuchte die Arbeitsgruppe um Rachel S. Herz das Phänomen noch einmal. Insgesamt nahmen 407 Probanden an einer Umfrage teil, die den Wert des Geruchs-, des Hör- und des Sehsinns direkt miteinander verglich und in Bezug auf neun Güter von unterschiedlicher sozialer und emotionaler Bedeutung ins Verhältnis setzte (Telefon, 10.000 US-Dollar, bevorzugte soziale Medien, Online-Shopping, Lieblings Streaming-Dienst, Traumurlaub, Haustier, Haare, kleiner linker Zeh). Die Ergebnisse zeigen, dass der Geruchssinn als weitaus weniger wichtig als das Sehen und Hören bewertet wurde.
Die jüngeren Befragten wertschätzten ihren Geruchssinn weniger als die älteren Befragten. Unter den befragten Studenten waren sogar 25 % dazu bereit, ihren Geruchssinn für ihr Handy oder 10.000 US-Dollar aufzugeben und fast die Hälfte der Frauen wollte lieber den Geruchssinn als die Haare verlieren. Immerhin 12 % gaben an, lieber auf ihren Geruchssinn als auf Online-Shopping zu verzichten.
Für Riechstörungen gibt es eine Vielzahl von Ursachen. Neben Unfällen, Tumoren oder einer durchgemachten Covid-Infektion wären da auch neurologische Erkrankungen, wie etwa das idiopathische Parkinson-Syndrom und Demenz vom Alzheimer-Typ. Menschen mit Riechstörungen sind dabei mit einer ganzen Reihe von Einschränkungen konfrontiert, die mit den vielfältigen Funktionen des Riechens zusammenhängen.
Das Riechen hilft bei der Nahrungsaufnahme, zeigt Gefahren an und dient der sozialen Kommunikation. Der Geruchssinn hilft uns dabei, uns über das Empfinden von Ekel schädlichen Einflüssen zu entziehen. In Bezug auf Lebensmittel oder den Geruch von Verbranntem ist das den meisten bewusst. Doch Menschen sind offenbar sogar in der Lage, in gewissem Umfang Anzeichen für eine Aktivierung des Immunsystems bzw. Krankheit bei anderen Menschen zu riechen.
Das zeigte ein Experiment bei dem acht Versuchspersonen Endotoxin injiziert wurden, um ihr angeborenes Immunsystem zu aktivieren. Demgegenüber stand eine Kontrollgruppe, der lediglich eine Kochsalzlösung injiziert wurde. Die Probanden trugen enganliegende T-Shirts, deren Geruch anschließend von 40 Versuchspersonen bewertet wurde. Die Riechenden bewerteten die Proben der Personen nach Endotoxininjektion als überzufällig unangenehmer, intensiver und ungesünder. Gleichzeitig konnte in einer anderen, wenn auch ebenfalls kleinen Studie (45 Probanden) gezeigt werden, dass Berührungen mit einem Pinsel signifikant unangenehmer empfunden wurden, wenn die Versuchspersonen gleichzeitig einem unangenehmen Geruch ausgesetzt waren. Möglicherweise schützen wir uns so unterbewusst vor Berührung in Situationen in denen z. B. Ansteckung droht.
Andererseits zeigen uns Gerüche auch soziale Zugehörigkeit an. Menschen können ihre Partner und Kinder am Geruch erkennen. So übernimmt das Riechen auch eine soziale Funktion. Der Geruch unserer Kinder löst beispielsweise ein Belohnungsgefühl bei uns aus, was einen genetischen Selektionsvorteil bedeutet, da wir unseren Kindern dadurch gerne nahe sind und sie so auch besser beschützen können.
Ein Experiment von Croy et al. an 25 Müttern mit Bindungsproblemen, die mit 50 Müttern mit einer guten Mutter-Kind Bindung verglichen wurden zeigte, dass die Mütter mit Bindungsschwierigkeiten den Geruch ihres eigenen Babys weniger stark präferierten als Mütter mit guter Bindung. Je schlechter die Mütter selbst die Bindung zu ihrem Kind einschätzten, desto geringer war ihre Präferenz. Die Arbeitsgruppe folgerte, dass in einem Teufelskreis die verminderte angenehme Erfahrung, das eigene Baby zu riechen, Frauen davon abhalten könnte, sich dem Baby bewusst zu nähern. Die Forscher sehen im bewussten Wahrnehmen des kindlichen Geruches einen möglichen Ansatz, um die Bindung zu verbessern.
Auch in Bezug auf die Sexualität spielt das Riechen eine wichtige Rolle. Männer können beispielsweise am Geruch einer Frau überzufällig häufig korrekt erkennen, ob sie sich in der Phase des Eisprungs befindet. Gleichzeitig beklagen in einer Studie 30 % der Patienten mit Verlust des Geruchssinns auch eine sexuelle Beeinträchtigung. In der Öffentlichkeit fanden außerdem Studien große Aufmerksamkeit, die beschrieben, dass Frauen den Geruch von MHC-unterschiedlichen Männern gegenüber dem von MHC-ähnlichen Männern präferierten. Diese Erkenntnisse waren laut einer großen Metaanalyse jedoch nicht eindeutig. In der Realität scheint dieser Effekt bei der Partnerwahl zudem keine signifikante Rolle zu spielen. Eine Untersuchung an 3.000 verheirateten Paaren zeigte, dass Paare nicht überzufällig häufig zusammen sind, wenn ihr MHC unähnlich ist.
Das soziale Miteinander nach dem Verlust des Geruchssinnes kann auch durch Ängste der Betroffenen davor, selbst schlecht zu riechen und dies nicht zu merken, stark beeinträchtigt sein. So zum Beispiel bei der Halitophobie, die sich dadurch kennzeichnet, dass Betroffene fürchten, ihre Mitmenschen durch Mundgeruch zu belästigen, den sie selbst nicht wahrnehmen können.
Riechen spielt offenbar auch für das Erleben und Verarbeiten von Emotionen eine wichtige Rolle. Die emotionale Verarbeitung entwickelte sich in Gehirnstrukturen, die ursprünglich für die Geruchsfunktion zuständig waren. Die Geruchs- und die Salienzverarbeitung finden teilweise in gemeinsamen Hirnregionen statt, zu denen die Amygdala, der anteriore cinguläre Kortex und die Insula gehören. Hierbei kommt der Insula eine Schlüsselrolle zu, da sie sowohl durch olfaktorische Stimuli als auch bei emotionalen Aufgaben aktiviert wird.
Die Salienz eines Reizes bzw. eines Objektes oder einer Person bestimmt mit, worauf sich die menschliche Aufmerksamkeit richtet. Untersuchungen an Patienten mit erworbener Hyposmie konnten passend dazu zeigen, dass bei ihnen auch das Vermögen reduziert war, emotionale Bilder zu verarbeiten. Der Hyposmiegruppe und einer gesunden Kontrollgruppe wurden Bilder mit emotionalem und nicht-emotionalem Inhalt präsentiert, während ihre Hirnaktivierung im fMRI-Scanner verfolgt wurde. Obwohl sich beide Gruppen in der Bewertung und Verarbeitung nicht-emotionaler Bilder nicht unterschieden, bewertete die Hyposmiegruppe die emotionalen Bilder als signifikant weniger erregend. Die Patienten zeigten außerdem eine verminderte Verarbeitung emotionaler Bilder in salienzrelevanten Gehirnstrukturen.
So scheint ein Verlust des Geruchssinns auch mit einer geringeren Fähigkeit einherzugehen, Emotionen zu empfinden und zu verarbeiten. Einschränkungen des Geruchssinns können Depression auslösen. Gleichzeitig zeigt sich, dass Menschen mit Depression Gerüche schlechter wahrnehmen. Möglicherweise könnten in der Zukunft anatomische Schnittstellen zur Depressionsbehandlung nutzbar gemacht werden. Diesbezüglich ist jedoch noch weitere Forschung notwendig.
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