Wenn Frauen mit einer Intelligenzminderung ein Kind bekommen möchten, gibt es auch heute noch Bedenken. Doch sind die vermeintlich „modernen“ Argumente überhaupt haltbar? Schwedische Psychologen gingen der Frage nach, mit überraschenden Ergebnissen.
Zwangssterilisationen von „geistig behinderten Frauen“ fanden noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts statt und auch heute werden intellektuell beeinträchtige Frauen nicht gerade dazu ermuntert, Kinder zu bekommen. Waren früher „die Gene“ das Argument gegen die Fortpflanzung, so werden heute soziale Gründe angeführt. Es heißt, die intellektuelle Beeinträchtigung der Mutter würde dem Kind keine sichere Bindung ermöglichen. Der schwedische Psychologe Pehr Granqvist und seine Kollegen haben bisher jedoch keine Studien darüber finden können, die belegen, dass allein der verminderte Intelligenzquotient ein Risikofaktor für die Mutter-Kind-Bindung sei.
Mithilfe einer Vergleichsstudie wollten die Autoren mehr Klarheit schaffen. Für ihre Studie fanden sie 23 Mütter mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von 55-70 und 25 Mütter mit normaler Intelligenz. Ihre Kinder waren im Alter von 5-8 Jahren und lebten zu Hause mit ihren Müttern. Intelligenzgeminderte Mütter leben im Vergleich zu normal-intelligenten Müttern überdurchschnittlich häufig ohne den Kindsvater mit ihren Kindern zusammen – das ist auch in dieser Studie der Fall (Vaterlose Haushalte: 69 % vs. 19 %; p < 0,001). Die Wissenschaftler befragten die Mütter dazu, ob es in ihrer Geschichte Missbrauch, Traumata oder Misshandlungen gab (iATM = Interview for Abuse, Trauma, and Maltreatment; Granqvist et al., 2006). Um den Bindungsstil der Kinder zu erfassen, führten die Autoren mit den Kindern unter anderem den Separation Anxiety Test (SAT, Version Kaplan, 1987) durch. Dieser Test wurde bereits in den 70er Jahren von Bindungsforschern wie John Bowlby entwickelt. Der Interviewer zeigt dem Kind verschiedene Bilder, auf denen Trennungssituationen dargestellt sind. Eine milde Form der Trennung wäre zum Beispiel das Schlafengehen am Abend. Eine harte Form der Trennung wäre es, wenn die Eltern in den Urlaub fahren und das Kind alleine zurücklassen. Die Kinder werden von den Interviewern gefragt, ob und falls ja in welchem Ausmaß das Kind auf dem Bild sich wohl fühlt. Außerdem sollen die Kinder sagen, was die Kinder auf den Bildern wahrscheinlich denken und was sie tun würden. Je nachdem, wie die Kinder antworten, lassen sich „sicher gebundene“ von „unsicher gebundenen“ Kindern unterscheiden.
Ist das Kind unsicher-vermeidend/inaktiv (Typ A) gebunden, so antwortet es besonders bewegt auf die „Gefühls-Fragen“. Das Kind nimmt an, dass sich das Kind im Testbild äußerst gestresst fühlt. Auf die Frage, was das Kind im Bild denn tun könnte, antwortet das unsicher-vermeidende Kind zumeist mit „Ich weiß nicht“, oder „gar nichts“. Sicher gebundene Kinder (Typ B) äußern Gefühle der Trauer, wenn sie die Trennungssituationen auf den Bildern sehen. Sie schlagen konstruktive Lösungen vor, die dem Kind auf dem Bild helfen könnten. Sie sehen zum Beispiel eine Möglichkeit darin, die Eltern zu bitten, nicht wegzufahren. Ambivalent-aggressiv gebundene Kinder (Typ C) sprechen besonders häufig von Aggressionen, die sich gegen die Eltern richten. Das Kind sucht auf widersprüchliche Art nach Lösungen: Es schlägt die Eltern und wünscht sich doch ihren liebevollen Kontakt. Unsicher-desorganisiert/ängstliche Kinder (Typ D) leiden unter unerklärlichen Ängsten in der Beziehung. Sie flüstern oder sie sind sprachlich desorganisiert – sie sagen z. B. „Ja-Nein-Ja-Nein“. Außerdem werden diese Kinder von Phantasien über katastrophale Situationen geplagt, indem sie z. B. rasch annehmen, dass die Eltern oder das Kind sterben könnten. Manche Kinder geraten völlig außer Kontrolle und schlagen beispielsweise den Interviewer. Jungen waren in dieser Studie signifikant häufiger desorganisiert gebunden als Mädchen (p < 0,05) – erstaunlicherweise trifft dieses Ergebnis insbesondere auf die Vergleichsgruppe zu, also auf die Gruppe der Kinder von normal-intelligenten Müttern.
Wie zu erwarten, hing auch in dieser Studie die Intelligenz der Kinder stark von der Intelligenz der Mütter ab (r = 0,32; p < 0,05). Allerdings war der Bindungsstil der Kinder unabhängig vom Intelligenzgrad der Mutter (rs <= +/< 0,22, nicht signifikant). Ebenso sagte der Intelligenzgrad des Kindes nichts über die Sicherheit seiner Bindung aus. Ungefähr ein Drittel der Kinder der intellektuell beeinträchtigten Mütter zeigten sichere Vorstellungen über Bindungen (sichere Bindungsrepräsentanzen). Ein weiteres Drittel wies vermeidende Bindungsrepräsentanzen auf und beim übrigen Drittel waren ambivalente und teilweise desorganisierte Bindungsrepräsentanzen zu erkennen. In der Vergleichsgruppe war etwa die Hälfte der Kinder sicher gebunden. Die Kinder der beeinträchtigen Mütter waren insgesamt etwas unsicherer gebunden als die Kinder der Vergleichsgruppe. Desorganisierte Bindungsrepräsentanzen waren in beiden Gruppen etwa gleich häufig festzustellen. Hatten die Mütter allerdings Missbrauch, Misshandlungen oder Traumata erlebt, so waren die Kinder häufiger desorganisiert gebunden. Diese Korrelation war in der Gruppe der beeinträchtigen Mütter deutlich stärker festzustellen als in der Vergleichsgruppe.
Es ist also die Kombination aus missbräuchlichen Erfahrungen und Intelligenzminderung, die sich schädlich auf die Bindung zwischen Mutter und Kind auswirkt. Während etwa 90 % der intelligenzgeminderten Mütter in dieser Studie Missbrauch, Misshandlung oder Traumata erlebt hatten, waren es in der Vergleichsgruppe nur ein Drittel der Mütter. Die Autoren sind sich aufgrund der kleinen Teilnehmerzahl der begrenzten Aussagekraft bewusst, doch sie schließen aus ihrer Studie, dass es nicht die Intelligenzminderung per se ist, die den Risikofaktor für die Mutter-Kind-Beziehung bildet. Vielmehr ist es die Tatsache, dass intelligenzgeminderte Mütter besonders häufig eine schwere Kindheit mit vielfältigen Misshandlungen erlebt haben. Auch in Deutschland steigt die Sensibilität für das Thema. In Dortmund hat sich im Jahr 1983 der Verein „MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V.“ gegründet. Ein Projekt dieses Vereins ist die „Begleitete Elternschaft". MOBILE e.V. schreibt: „Das Projekt richtet sich an Eltern, die in ihrer geistigen Entwicklung beeinträchtigt sind und als Familie mit ihren Kindern in eigener Wohnung zusammenleben möchten, hierfür aber Unterstützung benötigen, insbesondere bei der Erziehung ihrer Kinder." Im Jahr 2002 gründete sich dann in Bremen die „Bundesarbeitsgemeinschaft Begleitete Elternschaft“. Über 23 Städte beteiligen sich inzwischen. Mehr Informationen liefert die Website.