Die Langzeitanwendung von opioidhaltigen Analgetika bei chronischen, nichttumorbedingten Schmerzen wird weltweit kritisch diskutiert. Neu ist die Erkenntnis, dass Opioide fallweise zu lange und in der falschen Galenik verschrieben werden. Neue Leitlinien sollen helfen.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Opiatverordnungen sprunghaft angestiegen und die Kritiker von einst melden sich wieder zu Wort. Nach neueren Studien scheint erwiesen, dass Opiate auch Schmerzpatienten abhängig machen können. „Während eine Abhängigkeit von Opioiden eine Ausnahme darstellt, ist Abhängigkeit von Benzodiazepinen in der Literatur vielfach belegt“, so die namhaften Schmerztherapeuten Strumpf und Zenz im Jahre 1998. „Starke Opioide sind keinesfalls nur beim Krebspatienten im terminalen Stadium angezeigt, sondern immer dann, wenn es die Stärke des Schmerzes erfordert. Die Studie von Porter und Jick belegt eine Abhängigkeitsrate von 0,03 %. Grundlage für ein so niedriges Verhältnis ist eine konsequente Therapie nach Zeitschema, bei der Schmerzspitzen und somit der Wunsch nach Schmerzfreiheit oder der nächsten Tablettengabe nicht mehr auftreten.“ Prof. Zenz und sein Mitstreiter Prof. Dr. Michael Strumpf haben sich sehr engagiert dafür eingesetzt, Schmerzpatienten mehr Lebensqualität zu ermöglichen, und appellierten an die Ärzteschaft, endlich mehr Opiate zu verordnen. Dafür gebührt ihnen, auch aus heutiger Sicht, viel Respekt und zustimmende Anerkennung.
Jetzt sind viele Schmerzforscher von dieser Meinung teilweise abgerückt. „Die klinische Erfahrung zeigt jedoch, dass aufgrund iatrogener Fehlanwendungen von Opioiden mittlerweile zunehmend Opioidentzüge notwendig werden. Für die sichere Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nichttumorbedingten Schmerzen ist eine differenziertere Betrachtungsweise erforderlich. Die Patientenauswahl muss sorgfältig erfolgen“, erklärte der mittlerweile verstorbene Prof. Dr. Strumpf in einer Publikation der Deutschen Medizinischen Wochenschrift. Auch andere Schmerztherapeuten machen eine Rolle rückwärts. „Anders als bisher angenommen sind Missbrauch und Abhängigkeit realistische Risiken einer lang andauernden Opioidtherapie nichttumorbedingter Schmerzen. Die Ursachen hierfür sind nicht eindeutig geklärt“, so der Mainzer Arzt Dr. J. Jage. Den Meinungsbildnern ist durchaus bewusst, dass sie damit ihre einstigen Aussagen deutlich relativieren. „Vor einigen Jahren wäre man mit einem solchen Thema auf einem Kongress ausgelacht worden“, gab Dr. Johannes Lutz, Zentralklinik Bad Berka, auf einem Symposium zu. Der Grund für die Meinungsumkehr begründet sich durch aktuelle Studien. Veränderungen in der Tumorbehandlung und -prognose und Veränderungen in der Opioidverschreibung haben zum Problem der nicht adäquaten Anwendung beigetragen. 50 bis 65 Prozent der Tumorpatienten überlebten heute einen Zeitraum von zwei Jahren nach Diagnosestellung. Berechnungen von Fishbain et al. ergaben für die Inzidenz des Opioidmissbrauchs und der Abhängigkeit unter einer Langzeittherapie bei Patienten mit chronisch nichttumorbedingten Schmerz einen Wert von 3,27 Prozent. Das ist im Vergleich zu der Angabe von 0,03 Prozent eine deutliche Steigerung.
In der Literatur herrscht keine Einigkeit, wie man das Problem nennen soll. Fehlgebrauch, Gewöhnung, Abhängigkeit oder gar Sucht? International spricht man in Verbindung mit einer Opioidtherapie von addiction, abuse, misuse oder „aberrant drug-related behaviour“. Die British Pain Society nennt das Problem „Pseudoaddiction“. Gemäß ICD 10 wird zwischen schädlichem Gebrauch/Missbrauch und Abhängigkeit unterschieden. Eine ICD-Klassifizierung für einen „iatrogen gestützten Opioidfehlgebrauch“ sucht man vergebens. Egal wie man das Problem nennt, es ist keine „Sucht“ im klassischen Sinn. Sucht kommt von „sichen“, von dahinvegetieren. Mit dieser stigmatisierenden Nomenklatur wird man weder dem Arzt noch dem Patienten gerecht.
Nach früherer Meinung ist der Schmerz ein starker Antagonist zur Sucht. Lange wurde die Meinung vertreten, ein Schmerzpatient wird deshalb nicht abhängig oder gar süchtig. Auch weil die Motivation des Opiatgebrauchs eine gänzlich andere ist als beim i.v.-Konsum von Opiaten im Sinne einer Rauschdroge. Die Motivation des Drogenkonsumenten ist eine Euphorie, ein Kick und später die Linderung der Entzugssymptomatik. Ein Schmerzpatient will „nur“ schmerzfrei sein. So die Meinungen bis jetzt. Weil aber viele Patienten mit chronischen Schmerzen nicht schmerzfrei waren, haben sie sich höhere Dosen erschlichen, teilweise durch Ärztehopping. Ein anderer Aspekt ist die Eigentherapie von Komorbiditäten wie Depressionen oder Schlafstörungen. Der Patient kann meist nicht zwischen seiner Schmerzerkrankung und Entzugssymptomatik differenzieren. Unruhe, Zittern, Schwitzen, Tachykardie und Schmerzen finden sich bei beiden Phänomenen. Grundsätzlich können alle Opiate auch beim Schmerzpatienten zu einem missbräuchlichen Konsum führen. Die Gefahr ist jedoch höher, wenn die Opiate nicht retardiert sind und sie in einer galenischen Form verabreicht werden, die ein rasches Anfluten ermöglicht. Außerdem gehen einige Opioide „fremd“ und besetzen auch andere Rezeptoren. So wirkt Tramadol beispielsweise als Serotonin- und Noradrenalinreuptakehemmer und besitzt so eine stimmungsaufhellende und antidepressive Wirkung. Besonders Frauen schätzen diese antidepressiven Effekte. Auch Tilidin besitzt ein hohes psychisches Abhängigkeitspotenzial. Seine euphorisierenden Effekte treten bereits bei 25 bis 50 mg auf und die Anwender schätzen die antriebsteigernden und anxiolytischen Effekte.
Die WHO hat klar definiert, wie Opiate bei chronischen Schmerzen verabreicht werden müssen. Nach einem Stufenschema, oral und zeitkontingent. Dieses Schema wurde für den Karzinompatienten entwickelt und ist mittlerweile in die Jahre gekommen. Dennoch lassen sich auch heute noch gewisse Grundlagen ableiten. Rasch anflutende Opiate gelangen schnell ins Gehirn und erzeugen so auch rascher eine Abhängigkeit, mitunter gar einen „Kick“. So wird Fentanyl, das 100-mal so potent wie Morphin ist, nicht nur als Transdermales Therapeutisches System (TTS) eingesetzt, sondern auch als buccale Arzneiform und als Nasenspray. Für den Durchbruchschmerz ist das optimal und unverzichtbar. Im Rahmen eines Off-Label-Use wird aber buccales und nasales Fentanyl in der Dauertherapie eingesetzt. Auch Fentanyl-TTS sind nicht risikolos. Im deutschen Spontanmeldesystem liegen Berichte zu Überdosierungen durch Fentanylpflaster mit zum Teil schwerwiegenden Folgen vor. Darüber hinaus wurden unerwünschte Reaktionen gemeldet, die auf eine Überdosierung hindeuten könnten, wie Bewusstseinsstörungen, Somnolenz oder Atemdepression. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) hat mehrfach Hinweise für eine sichere Anwendung zur Verfügung gestellt und sieht eine Indikation für Fentanylpflaster vor allem bei Patienten mit Dauerschmerzen und stabilem und gleichmäßigem Opioidbedarf. Spätestens seit Dr. House weiß man aber auch, dass orales Oxycodon abhängig machen kann. Auch wenn substanzspezifische Unterschiede eine Rolle spielen, scheint die Abhängigkeit eine Gruppennebenwirkung der Opioide zu sein.
Toleranzentwicklung und Hyperalgesie tragen zu einer Abhängigkeit bei. Opioidtoleranz und opioidinduzierte Hyperalgesie (OiH) sind zwei völlig unterschiedliche Phänomene. In beiden Fällen kommt es zu einem Wirkverlust der eingesetzten Analgetika, jedoch aufgrund unterschiedlicher Mechanismen. Opioidtoleranz:
Bei der Opiattoleranz adaptieren Opiatrezeptoren oder „tauchen ab“. Je stärker ein Vollagonist am Rezeptor bindet, desto rascher erfolgt das Abtauchen des Rezeptors in die Zelle (Internalisierung). Unter langfristiger Opioidgabe weisen die hierfür relevanten Rezeptoren Adaptationsmechanismen auf, die sowohl in eine Desensibilisierung als auch in eine Internalisierung münden. Opioidinduzierte Hyperalgesie:
Es werden vermehrt fehlerhaft Informationen an das Nervensystem gesendet und als Schmerz empfunden. Dies wird auch als neuronale Plastizität bezeichnet. Für die OiH werden verschiedene Faktoren verantwortlich gemacht. Über das Opiatsystem werden NMDA-Rezeptoren aktiviert. Es werden zusätzlich erregende Transmitter freigesetzt. Der Nozizeptorenschmerz wird durch die Freisetzung von Prostaglandinen und Neuropeptiden ausgelöst. Bei einer Chronifizierung werden die Nozizeptoren sensibler, und die Verarbeitung in Rückenmark und Gehirn wird gefördert, der Schmerz wird intensiver wahrgenommen. Die OiH wird überwiegend über den μ-Rezeptor vermittelt, weshalb besonders Vollagonisten diese Nebenwirkung auslösen. Dies gilt besonders für Fentanyl und Morphin, weniger oder nicht für Buprenorphin. Deutliche Hinweise auf Opioidabhängigkeit sind:
Wie relevant das Thema ist, belegt auch die im September dieses Jahres aktualisierte LONTS-Leitlinie (Langzeitanwendung von Opioiden bei nichttumorbedingten Schmerzen) der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes und gibt klare Empfehlungen. Die S-3-Leitlinie regelt die Langzeitanwendung von Opioiden über die Dauer von 3 Monaten hinaus und stellt fest, dass keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz über einen Zeitraum von mehr als Monaten besteht. Es sollen Opioide mit retardierter Galenik oder langer Wirkdauer nach festem Zeitschema eingesetzt werden. Nach einer im Deutschen Ärzteblatt von Koppert im Jahr 2013 veröffentlichten Studie wurden 76,6 Prozent aller Opioide in Deutschland für Nichttumorpatienten verordnet. Deutschland steht damit an 3. Stelle der Opioidverordnungen weltweit. „Opioide werden überwiegend bei Nichttumorschmerz verordnet. Deshalb kann aus der Zunahme der Opioidverordnungen nicht auf eine bessere Versorgung der Tumorpatienten geschlossen werden“, so die Autoren der Leitlinie mahnend. Wesentliche Kernaussagen der Leitlinie sind folgende Empfehlungen:
Beim chronischen Rückenschmerz sind opioidhaltige Analgetika um zwei Stufen abgewertet worden. Grund hierfür ist die eingeschränkte Relevanz einiger Effektstärken und das günstigere Nutzen-Risiko-Verhältnis von nicht- medikamentösen Verfahren. Die Nationale Versorgungsleitlinie Rückenschmerz gibt keine eindeutige Empfehlung zur längerfristigen Therapie mit opioidhaltigen Analgetika. Sie empfiehlt eine Reevaluation der opioidhaltigen Analgetika bei akutem nichtspezifischem Kreuzschmerz nach spätestens 4 Wochen, bei chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz nach spätestens 3 Monaten. Tritt die gewünschte Schmerzlinderung/Funktionsverbesserung nicht ein, ist die Fortsetzung der Therapie mit opioidhaltigen Analgetika kontraindiziert.
Die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie und die Deutsche Schmerzliga kritisieren die LONTS-Leitlinie, erkennen aber gleichfalls Defizite in der Evidenz der Opiattherapie bei Nichttumorpatienten: „Die verfügbare Evidenz fällt vielmehr auf den ersten Blick ein eher deprimierendes (um nicht zu sagen vernichtendes) Urteil darüber, wie dünn das Eis ist, auf dessen Grundlage tagtäglich landauf und landab schmerztherapeutische Entscheidungen großer Tragweite getroffen werden.“ PD Dr. Michael A. Überall aus Nürnberg äußerte sich dazu wie folgt in einem Supplement der Münchner Medizinischen Wochenschrift: „Dort, wo diese Leitlinie benutzt wird, um nachgewiesenermaßen sinnvolle – weil effiziente – multimodale Therapieregime mit einer Langzeitopiattherapie unkritisch infrage zu stellen, wird dem praktisch schmerztherapeutisch tätigen Arzt und somit auch dem chronisch schmerzkranken Patienten Schaden zugefügt.“
„Bei Patienten mit persistierenden starken Schmerzen und/oder Beeinträchtigungen unter langfristiger Einnahme von opioidhaltigen Analgetika kann ein Opioidentzug innerhalb eines multimodalen Therapieprogrammes als therapeutische Maßnahme erwogen werden.“ Dies bewertet die LONTS-Leitlinie mit starkem Konsens. Kohortenstudien aus deutschen Schmerzzentren belegen eine Reduktion von Schmerzen und Beeinträchtigungserleben durch einen Opioidentzug innerhalb eines multimodalen Therapieprogrammes. Nicht selten führt die Dosisreduktion bzw. das Ausschleichen der Opioide zu einer Besserung der Schmerzsymptomatik. Dies kann durch den Rückgang der opiatbedingten Hyperalgesie erklärt werden. Zahlreiche Studien belegen die Wirksamkeit von Buprenorphin als Partialagonist. Bei dieser Substanzgruppe ist die Gefahr einer Hyperalgesie geringer. Sogar eine Substitutionsbehandlung für Schmerzpatienten ist denkbar, das BtM-Gesetz schränkt dies nicht ein. Auch wenn die LONTS-Leitlinien Fragen offen lassen, sind sie notwendig und sinnvoll. Sie sollten nicht so verstanden werden, einem Schmerzpatienten Opioidanalgetika vorzuenthalten. Lediglich beim nichttumorbedingten Schmerz sollte die Therapie nicht länger als drei Monate dauern und die Schmerzmittel aus ihrer Formulierung langsam freigesetzt werden.