Mittels Neutronenstrahlen können Forscher die Struktur von Biomolekülen erkennen – das macht man sich bei der Entwicklung von Impfstoffen zu Nutze. Ein Kandidat gegen den Krankenhauskeim Pseudomonas aeruginosa steht jetzt in den Startlöchern.
Multiresistente Bakterien, die auf kein gängiges Antibiotikum ansprechen, sind ein zunehmendes Problem. Die WHO schätzt, dass sie zu mehr als 1,3 Millionen Todesfällen pro Jahr führen. Daher wird intensiv an neuen Therapieansätzen gegen multiresistente Erreger geforscht.
Bei vielen neuen Impfstoffen ist der Wirkstoff mit Liposomen verbunden – nanoskopischen, kugelförmigen Behältern aus Lipiden, die ein Wassertröpfchen umschließen. Der Wirkstoff kann dabei im Wassertropfen enthalten sein, wie bei den neuen mRNA-Impfstoffen gegen COVID-19. Er kann jedoch auch in die Lipid-Doppelschicht eingebettet sein. Dies ist bei einem neuen, erfolgversprechenden Impfstoff-Kandidaten gegen das multiresistente Bakterium Pseudomonas aeruginosa der Fall. Er wurde von einem Forscherteam um Jean-Luc Lenorman von der französischen Université Grenoble-Alpes entwickelt und bereits erfolgreich in Mäusen getestet.
Nun hat ein internationales Forscherteam um Dr. Marco Maccarini vom Centre National des la Recherche Scientifique (CNRS) und der Université Grenoble-Alpes und Dr. Aurel Radulescu vom Jülich Centre for Neutron Science (JCNS) des Forschungszentrum Jülich eine präzise Analyse dieses Impfstoff-Kandidaten durchgeführt – und zwar mithilfe von Neutronenstrahlen. Ebenfalls an der Studie beteiligt waren Forscher der italienischen Università Politecnica delle Marche in Ancona. Die Ergebnisse sind nun in der Fachzeitschrift Langmuir erschienen.
„Um liposombasierte Impfstoffe zu entwickeln und zu optimieren, ist es wichtig, die Liposome und ihren Aufbau genau zu analysieren und zu verstehen“, erläutert Maccarini. „Denn der Aufbau der Biomoleküle ist entscheidend für eine möglichst gute Wirksamkeit.“ Der Wirkstoff beim Impfstoff gegen P. aeruginosa ist das Protein OprF (Outer Membrane Protein F) – das Haupt-Porin der äußeren Membran der Bakterien. „Grundsätzlich könnte der Wirkstoff an verschiedenen Stellen in die Lipidschicht eingebaut werden – etwa innen oder außen“, sagt der Forscher. „Besser erkannt wird er vom Immunsystem, wenn er in die doppelte Lipidschicht eingebunden ist.“
In ihrer Studie nutzten die Wissenschaftler die Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) der Technischen Universität München (TUM) in Garching bei München. „Neutronenstrahlen haben im Vergleich zu Röntgenstrahlen große Vorteile: Sie interagieren mit Atomkernen und liefern daher detaillierte Strukturinformationen, ohne Schäden an der Probe zu verursachen“, erläutert Radulescu. Er ist Experte für die Messung von Kleinwinkelstreuung – der Art von Streuung, mit der sich die Biomoleküle detailliert untersuchen lassen. „Das FRM II bot uns ideale Bedingungen für die Strukturanalysen, weil es über einen hohen Neutronenfluss und gut ausgerüstete Neutronenstreuungsinstrumente verfügt“, sagt der Forscher.
Die Herausforderung für die Forschergruppe bestand darin, mithilfe des Diffraktometers, das die Streuung der Neutronen durch die Atomkerne misst, die Proteine und die Lipide in der Probe zu unterscheiden. „Das ist uns mit einem Trick gelungen“, berichtet Radulescu. „Wir haben Messungen an den Proben in Lösungen mit normalem Wasserstoff (1H) und schwerem Wasserstoff (Deuterium, 2H) in verschiedenen Mischverhältnissen durchgeführt. Neutronen bilden die beiden Wasserstoffformen sehr unterschiedlich ab. Durch wiederholte Messungen, bei denen der Deuteriumanteil verändert wurde, entstanden Bilder mit unterschiedlichen Kontrasten, die verschiedene Informationen enthalten.“
Mithilfe eines neu entwickelten Computermodells gelang es den Wissenschaftlern anschließend, die Struktur und Morphologie der verschiedenen Komponenten des Impfstoff-Kandidaten darzustellen. „Auf diese Weise konnten wir die zweilagige Struktur der Lipide sichtbar machen und die durchschnittliche Größe der Partikel bestimmen“, berichtet Maccarini. Weiterhin konnten sie die durchschnittliche Position und Menge des OprF-Wirkstoffs ermitteln, der zwischen die beiden Lipidschichten eingebettet ist.
„Liposombasierte Impfstoffe haben viele Vorteile“, erläutert Maccarini. „Sie bestehen hauptsächlich aus Lipiden, die auch im menschlichen Körper vorkommen, und sind daher hoch biokompatibel, ungiftig und biologisch abbaubar. Außerdem umschließen sie den Wirkstoff wie eine Kapsel und schützen ihn so vor Zersetzung.“ Durch die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen gegen Covid-19 hat dieser Forschungsbereich große Fortschritte gemacht. So können liposombasierte Arzneimittel-Verabreichungssysteme nun auch industriell in großen Mengen hergestellt werden.
„In unserer neuen Studie ging es zunächst darum, zu zeigen, dass eine exakte Analyse der Struktur möglich ist“, sagt der Wissenschaftler. In Zukunft könnte die Methode zum Beispiel genutzt werden, um liposombasierte Impfstoff-Kandidaten zu optimieren. Dazu könnten mehrere Liposom-Wirkstoff-Proben mit strukturell unterschiedlichen Eigenschaften – etwa unterschiedlicher Größe, Dichte oder Verteilung der Komponenten – auf ihre Wirksamkeit getestet und zugleich per Neutronenstrahlung analysiert werden.
Ähnliche Untersuchungen, etwa zur Analyse von Liposomen allein, werden bereits seit einigen Jahren erfolgreich durchgeführt. „Beim Kleinwinkel-Diffraktometer in Garching besteht eine lange Tradition der Zusammenarbeit mit verschiedenen Forschergruppen, auch aus der medizinischen Forschung“, berichtet Radulescu.
Aus Sicht der beiden Wissenschaftler könnte es sinnvoll sein, bei der Entwicklung neuer Impfstoffe oder Medikamente standardmäßig Neutronenstrahlen-Analysen einzubeziehen. „Auf diese Weise erhält man Informationen, die mit anderen Methoden nicht möglich sind“, sagt Maccarini. Solche Analysen müssten natürlich immer mit weiteren Untersuchungsmethoden kombiniert werden, um in einem iterativen Prozess den bestmöglichen Impf- oder Wirkstoff zu entwickeln.
Trotz der Komplexität der Analysen, für die Neutronen in aufwändigen kerntechnischen Anlagen hergestellt werden müssen, sind hohe Kosten für die Forschungsarbeiten weniger ein Problem. „Die Forschungs-Neutronenquelle in Garching steht Wissenschaftlern von Universitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen kostenlos zur Verfügung, wenn ihr Antrag auf ‚Strahlzeit‘ von unserem internationalen Gutachtergremium genehmigt wurde“, sagt Radulescu. „Die Pharmaindustrie hat wiederum die Möglichkeit, ‚Strahlzeit‘ für ihre Studien zu kaufen.“
Was den Impfstoff-Kandidaten gegen P. aeruginosa betrifft, wird dieser bereits von der Arbeitsgruppe um Lenorman in klinischen Studien getestet. Sind sie erfolgreich, könnte das für den medizinischen Alltag von großem Nutzen sein – denn P. aeruginosa ist einer der wichtigsten Krankenhauskeime. Er kann, vor allem bei immunsupprimierten Patienten, zu Lungenentzündungen und Sepsis führen, die mit einer hohen Sterblichkeit verbunden sind. So gehen laut einer Studie in der Fachzeitschrift The Lancet 75.000 Todesfälle jährlich weltweit direkt auf dieses Bakterium zurück.
Bildquelle: Ian Talmacs, unsplash