Die neuen Amyloid-Antikörper scheinen der Ritterschlag für die jahrzehntealte Amyloid-Hypothese zu sein. Doch auch eine andere, einst belächelte Theorie macht wieder Schlagzeilen. Wo stehen wir und wie geht’s weiter?
Amyloid und Alzheimer, zwei Begriffe, die nicht mehr voneinander zu trennen sind. Mit den beiden Anti-Amyloid-Antikörpern Lecanemab und Donanemab konnte kürzlich erstmals wirklich überzeugend gezeigt werden, dass eine Anti-Amyloid-Therapie bei Alzheimer helfen kann. Der statistisch eindeutige Nutzen des Anti-Amyloid-Antikörpers Lecanemab wurde als „Meilenstein der Alzheimer-Forschung“ betitelt (DocCheck berichtete). Die FDA hat im Januar dieses Jahres eine vorläufige Zulassung erteilt, die definitive Zulassung steht kurz bevor. In Europa ist der Antrag gestellt, aber es ist noch offen, wie die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) am Ende entscheidet.
Vor dem Hintergrund einer möglichen Zulassung von Lecanemab (und Donanemab) auch in Europa und der Omnipräsenz von Amyloid in der Alzheimerforschung seit den 1980er-Jahren hat sich ein Team rund um Prof. Kasper P. Kepp von der Abteilung für Chemie der Technischen Universität Dänemark mit der Antikörper-Therapie auseinandergesetzt. Die Wissenschaftler argumentieren in einem kritischen Review, dass trotz der großen Komplexität der Alzheimer-Krankheit die Forschung für eine erfolgreiche Behandlung im Wesentlichen auf der Idee aufbaue, Alzheimer sei nicht mehr als eine Art „Maschinenversagen“, das dazu führt, dass das Gehirn mit Beta-Amyloid überladen werde.
Was spricht gegen diese These, zumindest gegen die Ausschließlichkeit dieser These? „Bei sehr vielen Arzneimitteln hat sich in klinischen Studien gezeigt, dass sie Amyloid ohne oder mit nur sehr geringen und ungewissen Auswirkungen auf die Krankheit entfernen. Das gilt auch für Lecanemab“, erklärt Kepp im Gespräch mit DocCheck. „Die Erklärungen, warum sie versagt haben, sind unserer Ansicht nach nicht schlüssig. Manchmal ist es die falsche Form von Amyloid, manchmal der falsche Ort, manchmal zu spät im Krankheitsprozess.“
Hauptgründe für die Zweifel an der Amyloid-Hypothese seien, so die Forscher in ihrem Review, die geringe klinische Wirkung von Anti-Amyloid-Medikamenten sowie vor allem das Fehlen einer Korrelation zwischen Kognition und Amyloid-Ablagerungen. Ebenfalls wird kritisiert, dass es viele genetische und lebensstilbedingte Risikofaktoren – wie etwa BMI, Diabetes, Bluthockdruck und Depression – für die Entwicklung von Alzheimer gebe, die in der Amyloid-Hypothese lange Zeit wenig Berücksichtigung fanden. Mittlerweile werden diese Risikofaktoren allerdings miteingebunden.
„Die genetischen Risikofaktoren, die Amyloid mit Alzheimer in Verbindung bringen (FAD, Presenilin- und APP-Mutationen), machen weniger als 5 % aller Alzheimer-Erkrankungen aus“, so Kepp. Bei über 95 % aller Alzheimer-Patienten würden dagegen Amyloid-Plaques auftreten, ohne dass ein genetischer Risikofaktor vorhanden sei. Außerdem werde bei vielen dieser Mutationen tatsächlich weniger Amyloid produziert als bei Vorliegen der Wildform des Proteins: „Auch viele gesunde Menschen haben Amyloid im Gehirn. Das Protein wird normalerweise im Gehirn hergestellt und es hat wahrscheinlich eine Funktion – wie andere Proteine, die wir herstellen.“
Ein weiterer Kritikpunkt: Die Amyloid-Hypothese oder Amyloid Cascade Hypothesis (ACH) basiert in weiten Teilen auf Tierstudien, vor allem mit Nagern. „Viel Unterstützung für die ACH kam von transgenen Nagetiermodellen, die FAD-Mutanten exprimieren. […] Unterschiede bei Alterungsprozessen und neurologischer Entwicklung des Menschen schränken den Wert der bei Mäusen beobachteten pathogenen Prozesse ein“, so die Forscher.
Was heißen diese Bedenken für die Amyloid-Hypothese? Können die Amyloid-Antikörper Lecanemab und Donanemab nach den gescheiterten Versuchen ihrer Vorgänger die Alzheimer-Therapie in neue Bahnen lenken? Der Blick auf entweder nicht oder jedenfalls nicht eindeutig effektive, andere Anti-Amyloid-Antikörper, beispielsweise Solanezumab und Bapineuzumab, weckt bei manchem Zweifel. Und auch Autopsie-Nachuntersuchung zwischen 4 Monaten und 14 Jahren nach einer aktiven Amyloid-Beta-Immunisierung zeigten, dass es zwar zu einer Entfernung der Plaques, aber trotzdem auch zu einem Fortschreiten der schweren Demenz bei den meisten Patienten kam.
Kepp empfindet den alleinigen Fokus auf Amyloid-Therapien daher als nicht zielführend: „Die jüngsten Antikörper gegen Amyloid-Beta (Donanemab, Lecanemab) haben zwar eine geringe, aber ebenfalls unsichere Wirkung. Sie haben Nebenwirkungen – und sie sind in der Verabreichung teuer. Sie könnten aber Teil eines größeren Behandlungsparadigmas sein.“ Eine frühe Diagnose sowie Ursachenforschung seien weiterhin besonders relevant für die Alzheimer-Forschung und Behandlung. Die „Prävention und Förderung verschiedener Arzneimittelpipelines, z. B. in Bezug auf die Proteostase, den Hirnstoffwechsel, das Tau-Protein und andere Wege, die bekanntermaßen eine Rolle bei der Krankheit spielen“, seien essenziell.
„Wir sollten berücksichtigen, dass Patienten individuelle, sich überschneidende, aber heterogene Krankheitsverläufe aufweisen. Diese vielfältigen Faktoren und Wege zu ignorieren, um magische Patentrezepte zu finden, ist schädlich“, konkludieren die Autoren.
Die Autoren warnen also vor einer zu überschwänglichen Betrachtung von Anti-Amyloid-Therapien als Alzheimer-Wundermittel. Amyloid könnte zwar ein wichtiger Teil der Alzheimer-Pathologie sein, doch vielleicht nur eine untergeordnete Rolle bei der Behandlung der Erkrankung spielen. Aber wenn Amyloid nicht hauptsächlich verantwortlich für die Entstehung der Demenzsymptomatik bei Alzheimer ist – was dann? Könnten es Infektionen, Gefäßerkrankungen und Stoffwechselstörungen sein? Diese Hypothesen müssten als mögliche Ursachen weiter erforscht werden, so die Studienautoren. „In diesen Szenarien könnte Amyloid zum Beispiel ein Marker für einen erhöhten APP-Umsatz sein, der eher eine Reaktion auf eine Beeinträchtigung als ein Krankheitsfaktor ist.“
Die Idee, dass Viren oder Bakterien eine Rolle bei der Entstehung von Alzheimer spielen könnten, wurde seit den 1980er Jahren immer wieder von Wissenschaftlern aufgegriffen. Während dieser Ansatz damals belächelt wurde, gewinnt er heute wieder an Bedeutung. So zeigten beispielsweise mehrere Studien (hier, hier und hier), dass Menschen, die mit Herpes-simplex-Viren infiziert sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, an Alzheimer zu erkranken. „Dann gab es diese Studie aus Taiwan aus dem Jahr 2018, die ziemlich wegweisend war“, sagt Davangere Devanand, Neurologe am Columbia University Medical Center im Guardian. „Wenn Menschen mit Herpes mit einem antiviralen Standardmedikament behandelt wurden, verringerte sich ihr Demenzrisiko um das Neunfache.“
In einem aktuellen Preprint finden Forscher Hinweise darauf, dass eine Herpes-Zoster-Impfung Demenz vorbeugen könnte. Die Forscher machten sich für ihre Studienkohorte zu Nutzen, dass in Wales die Zulassung für die Herpes-Zoster-Impfung nach der Geburt an ein festes Datum gebunden ist. Menschen, die vor dem 2. September 1933 geboren wurden waren zu 0,01 % geimpft, Menschen die nach diesem Datum geboren wurden zu 47,2 %. Studienautor Dr. Pascal Geldsetzer, Assistenz-Professor für Primärversorgung und Bevölkerungsgesundheit in Stanford, erklärt den Studienaufbau auch auf Twitter.
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Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass die Impfung die Wahrscheinlichkeit einer neuen Demenzdiagnose über einen Nachbeobachtungszeitraum von sieben Jahren um 3,5 Prozentpunkte (95 % CI: 0,6–7,1, p = 0,019) reduzierte. Wenn das stimmt, entspräche das einer beinahe 20%igen Verringerung des Auftretens von Demenz. Der Effekt war bei Frauen größer als bei Männern. „Wir zeigen dann, dass der Impfstoff keine Auswirkungen auf andere häufige Ursachen von Morbidität oder Mortalität hat. Dies steht im Gegensatz zu Korrelationsanalysen, die in der Regel mit Verzerrungen behaftet sind, weil gesündere/gesundheitsmotiviertere Menschen mit besserem Zugang zur Gesundheitsversorgung sich mit größerer Wahrscheinlichkeit impfen lassen“, so Geldsetzer via Twitter.
Die ernüchternden Forschungsergebnisse zur Amyloid-Theorie und im Gegenzug die wieder aufgeflammte Forschung zu Virusinfektionen als Demenz-Auslöser sind jedenfalls zwei interessante Entwicklungen in Sachen Alzheimer-Forschung. Sie zeigen erneut, dass mehr hinter Alzheimer stecken könnte, als ausschließlich das Amyloid.
Geldsetzer und sein Team schreiben, es bräuchte randomisierte Studien, um den Effekt von Herpes-Zoster-Impfungen weiter zu untersuchen und eventuell einen geeigneten Zeitpunkt für die Impfung im Rahmen einer Demenz-Behandlung zu finden. Auch Kepp rät von einem alleinigen Fokussieren auf die Amyloid-Ansätze ab. „Die Hypothese war wichtig für die Forschung und Entwicklung von Krankheitsmodellen, aber sie hat nur einen kleinen Einfluss auf Patienten – vor allem, weil diese Krankheit so komplex ist.“
Bildquelle: Ioana Cristiana, Unsplash