Ärzte, aufgepasst! Glutenfreie Diäten sind beliebt – aber nicht unbedingt gesund. Was tun, wenn sich eure Patienten glutenfrei ernähren wollen? Eine neue „Klug-Entscheiden“-Empfehlung hilft.
Die „Klug entscheiden“-Initiative der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat es sich zur Aufgabe gemacht, die medizinische Versorgung in Deutschland zu verbessern. Inspiriert vom US-amerikanischen Vorbild „Choosing Wisely“ will die Kampagne dafür sorgen, dass Ärzte unnötige Diagnose- und Therapieverfahren vermeiden und hebt sinnvolle, aber häufig nicht durchgeführte Maßnahmen hervor.
Diese Woche hat Prof. Axel Holstege, Ärztlicher Direktor am Klinikum Landshut, neue Klug-Entscheiden-Empfehlungen aus dem Fachbereich Gastroenterologie vorgestellt. Hier präsentieren wir euch eine der Positiv-Empfehlungen:
Hintergrund dieser aktuellen Empfehlung ist, dass die glutenfreie Ernährung in den letzten Jahren immer beliebter geworden ist – obwohl die meisten Menschen gar nicht auf Gluten verzichten müssten. Internist Holstege erklärt, warum das problematisch ist: „Menschen, die ohne Grund eine glutenfreie Diät einhalten, weisen oft einen Mangel an Mikronährstoffen und Mineralien auf.“ Dazu zählen etwa Vitamin D, Vitamin B12, Folsäure sowie Eisen, Zink, Magnesium und Kalzium. Gleichzeitig können höhere Urinspiegel von Arsen und Blutspiegel von Quecksilber, Blei und Kadmium bei diesen Personen auftreten. Wer glutenfrei isst, nimmt offenbar mehr Lebensmittel zu sich, die mit Schwermetallen belastet sind. Allerdings sei an dieser Stelle angemerkt, dass unklar ist, ob die erhöhten Konzentrationen auch gesundheitlich relevant sind.
Während es für die positiven Auswirkungen einer glutenfreien Diät auf die Gesundheit an wissenschaftlicher Evidenz fehlt, gibt es einige Untersuchungen, die das Gegenteil zeigen. Personen, die nicht an Zöliakie leiden und weniger Gluten zu sich nehmen, haben ein höheres Risiko für Typ-2-Diabetes als Menschen, die mehr Gluten essen. Das könnte auf die geringere Menge an Ballaststoffen zurückzuführen sein oder auf die Tatsache, dass glutenfreie Produkte oft mehr Zucker oder gesättigte Fettsäuren enthalten. Typ-2-Diabetes ist wiederum ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Aus medizinischer Sicht sprechen nur drei Gründe für den Verzicht auf Gluten, sagt Holstege: das Krankheitsbild der Zöliakie, von dem zwischen 0,7 und 1,7 % der Weltbevölkerung betroffen sind, die Weizenallergie und die Nicht-Zöliakie-Gluten-Sensitivität (NCGS), welche als Ausschlussdiagnose gilt. Experten zweifeln allerdings inzwischen daran, dass Gluten der maßgeblich auslösende Inhaltsstoff für NCGS ist, weswegen die Autoren der deutschen Zöliakie-Leitlinie die Diagnose Nicht-Zöliakie-Weizensensitivität (NCWS) vorschlagen.
Trotzdem ernähren sich viele Menschen glutenfrei, obwohl sie gar nicht müssten. Dank Social Media, berühmter Persönlichkeiten und unerbittlichem Marketing der Industrie hat sich der Glaube verbreitet, glutenfreie Ernährung könne die allgemeine Gesundheit verbessern, beim Abnehmen helfen oder die sportliche Leistungsfähigkeit steigern. Gerade in der Sportlerszene scheinen sich viele Fans des Glutenverzichts zu tummeln, merkt Holstege an. So verzichteten einer Studie zufolge 41 % der befragten nicht an einer Zöliakie erkrankten Athleten – darunter auch Olympiasieger – mindestens die Hälfte der Zeit auf Gluten. Rund 60 % der Sportler bescheinigten sich selbst eine Gluten-Intoleranz. Auswirkungen auf die sportliche Leistung scheint das allerdings nicht zu haben, so das Ergebnis einer weiteren Studie. Radrennfahrer, die sich jeweils eine gewisse Zeit glutenfrei ernährten und anschließend Gluten aßen, erzielten in einem Belastungstest die gleiche Leistung – egal, welche Diät sie zu dem Zeitpunkt einhielten.
Was also tun mit Patienten, die in der Hausarztpraxis davon berichten, sich jetzt glutenfrei ernähren zu wollen – oder das schon längst tun? Laut der neuen Klug-Entscheiden-Empfehlung sollten Ärzte allen Personen, die eine gluten- oder weizenfreie Diät durchführen wollen, empfehlen, vor Diätbeginn eine Zöliakie ausschließen zu lassen, z. B. durch Bestimmung von zöliakiespezifischen Autoantikörpern und Gesamt-IgA. Dieses Vorgehen ist bei Patienten mit Symptomen, z. B. beim Reizdarmsyndrom oder bei Hautsymptomen, besonders wichtig. Denn die Betroffenen lehnen bei Besserung der Beschwerden durch ihre Eliminationsdiät eine Glutenbelastung zur Sicherung oder zum Ausschluss einer Zöliakie häufig ab. Doch wie bereits erwähnt, sind solche unspezifischen Beschwerden möglicherweise gar nicht auf Gluten, sondern auf andere Bestandteile von Weizen zurückzuführen – ein genereller Verzicht auf gluten- oder weizenhaltige Nahrung erscheint für die Diagnosefindung also nicht sinnvoll.
Holstege nennt in diesem Zuge auch die genetische Untersuchung zum Ausschluss einer Zöliakie, bei der die HLA-Marker DQ2 und DQ8 bestimmt werden. Diese Merkmale kommen zwar auch bei Gesunden vor, haben aber einen sehr hohen negativen prädiktiven Wert. Wenn bei einem Patienten weder HLA-DQ2.2, -DQ2.5 noch -DQ8 vorliegen, ist eine Zöliakie sehr unwahrscheinlich. Für Holstege ist klar: „Solange Patienten keine nachgewiesene Zöliakie haben, sollte man ihnen auch keine glutenfreie Diät empfehlen!“
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