Irren ist menschlich – so weit, so abgedroschen. Warum es aber gerade in medizinischen Berufen wichtig ist, sich über Fehler auch zu beschweren, lest ihr hier.
Wir sind alle nur Menschen. Und wo Menschen zusammenkommen, passieren Fehler, teilweise mit gravierenden Folgen. In solchen Fällen kommt das Beschwerdemanagement zum Einsatz und soll dabei Handlungsabläufe von allen Richtungen durchleuchten und damit zukünftige Fehler vermeiden – oder doch nicht? Nehmt euch einen Moment Zeit und denkt an eure letzte Beschwerde: Wurde sie angenommen, vielleicht sogar bearbeitet? Es gab auch eine Lösung? Oder ist das Stück Papier/die Datei genau dahin gewandert, wo ihr von Anfang an damit gerechnet habt, nämlich in Ablage P?
Fangen wir aber erstmal vorne an: Beschwerdemanagement ist grundsätzlich ein sehr wichtiges Tool, um Fehler aufzudecken und daraus zu lernen. Wir alle machen Fehler, aber wir können diese durch Minimierung von Fehlerquellen deutlich reduzieren. Selbst eine Quote von 99 % fehlerfreier Arbeit bedeutet am Ende 1.225 fehlerhafte Operationen pro Woche in deutschen Krankenhäusern. Oder 7 Stunden Stromausfall pro Monat. Oder gar 15 Minuten am Tag verseuchtes und verunreinigtes Wasser. Diese Beispiele beziehen sich auf die Durchschnittswerte in Deutschland, aber ihr seht: Selbst 99 % sind nicht gut genug.
Ich möchte euch in dem Zusammenhang auch ein Zitat von der Managementseite 4managers mit auf den Weg geben:
„Auf einen enttäuschten Kunden, der sich direkt bei uns beschwert, kommen etwa 19, die sich nicht beschweren. Alle 20 Kunden äußern ihre Unzufriedenheit im Durchschnitt jeweils gegenüber 11 weiteren Personen (13 % der Kunden erzählen dies sogar 20 anderen Menschen). Diese 220 Kunden sollten wir im Kopf haben, wenn unser nächster Kunde auf einen Mangel aufmerksam macht.“
Natürlich ist das Beschwerdemanagement zunächst ein Tool der Industrie, aber es findet auch in Prozessen von Dienstleistungen, wie es Medizin und Pflege sind, Anwendung. Es sollte nicht nur zur Fehlerminimierung und Arbeitsoptimierung, sondern auch zur Zufriedenheitssteigerung dienen – Beschwerden sind immer subjektiver Natur. „Ja klar, Herr Pflegel, ist ja alles schön und gut, sag das mal meinem Chef!“ Und genau hier sind wir am springenden Punkt.
In deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen ist das Beschwerdemanagement nur spärlich – man könnte es sogar alibimäßig beschreiben – implementiert. Fehler macht niemand gerne, aber noch unangenehmer ist das Eingeständnis, dass einer passiert ist. Leider ist das Beschwerdemanagement nicht fest im SGB XI verankert, denn dort heißt es in §80 lediglich: „Die zugelassenen Pflegeeinrichtungen sind verpflichtet, sich an Maßnahmen zur Qualitätssicherung zu beteiligen […]“. Das lässt viel Raum für Interpretation.
Doch ich möchte euch zeigen, warum ein gutes Beschwerdemanagement allen helfen kann. Bevor ich das Beschwerdewesen in unserem Haus in Absprache mit dem Geschäftsführer korrekt etabliert habe, hatte es eine Mitarbeiterin nach „bestem Gewissen“ umgesetzt. Ihre Antwort auf die Frage, wie sie Beschwerden bearbeitet: „Ich frage Leute so lange aus, bis sie mir sagen, was ihnen nicht passt. Es kann ja nicht sein, dass wir überhaupt keine Beschwerden haben! Diese füge ich dann in diese Excel-Tabelle ein. Und das kann ich dann vorzeigen, wenn jemand nach Beschwerden fragt.“
Ich übersetze euch den Teil frei: Ich gehe den Leuten so lange auf die Nerven, bis sie mir irgendetwas Negatives sagen, was ich in eine Tabelle einfügen kann, was dann aber für den weiteren Verlauf keinerlei Konsequenzen hat. Ist das Beschwerdemanagement? Achtung, rhetorische Frage.
Wie es richtig gehen kann, zeigt ein anderes Beispiel: Im Nachtdienst vergeht sich mutmaßlich eine Pflegerin an mehreren Bewohnern – vor allem mit Worten, aber auch Handgreiflichkeiten lassen sich nicht ausschließen. Nach besagtem Nachtdienst beschweren sind mehrere Bewohner, eine ist sogar so aufgelöst, dass sie weint und komplett wesensverändert erscheint. Sie ist zwar dement, allerdings ist so ein Verhalten bei ihr noch nicht aufgetreten. Die Kollegen im Frühdienst sind empört und geschockt, rufen mich in meinem Frei an und schildern mir die Details. Ich wiederum rufe sofort den Geschäftsführer an, wir treffen uns gegen 10 Uhr auf der Arbeit. Wir nehmen die Aussagen der betroffenen Bewohner auf und gleichen sie mit den Schilderungen gegenüber den Kollegen ab. Mittags setzen wir, weil die Anschuldigungen plausibel klingen, die fristlose Kündigung auf, laden die Mitarbeiterin ein. Ich habe spontan den Nachtdienst übernommen, sie hat außer zum Ausräumen des Spindes und zur Entgegennahme ihrer Kündigung mit direkter Beurlaubung keinen Fuß mehr in das Haus gesetzt und ist nicht mehr in die Nähe der Bewohner gekommen.
Ihr seht: Beschwerdemanagement geht auch ohne zwingenden Eintrag in eine Excel-Tabelle sehr gut, allerdings erfordert das einen offenen Umgang mit Fehlern, eine Wertschätzung und Ernsthaftigkeit dem Beschwerdeführenden gegenüber und einen transparenten Umgang mit dem Fehler und der Lösungsfindung. Seit diesem Vorfall ist im ganzen Haus zu spüren, dass die Bereitschaft, mit Fehlern – und vor allem auch Beinahe-Ereignissen – auf die Leitung zuzukommen deutlich zugenommen hat und wir so weniger gravierende Fehler zu verzeichnen haben. Gleichzeitig wissen sich Mitarbeiter und Bewohner geschätzt und erzählen wiederum anderen davon, dass Beschwerden zu ihrer Zufriedenheit bearbeitet wurden.
Wichtig ist, dass man Menschen die Möglichkeit gibt, sehr einfach, unkompliziert und wahlweise auch anonym eine Beschwerde zu äußern. Je mehr Möglichkeiten, desto eher werden die Personen an euch herantreten und die Bereitschaft zur Beschwerde steigt. Sollten sich die Personen zu erkennen geben, dann lasst sie nicht unbegleitet: Sucht das Gespräch, haltet sie über den Prozess auf den Laufenden. Eine enttäuschte Person ist noch enttäuschter, wenn sie trotz aktivem Herantreten alleine zurückgelassen wird. Dabei ist Festlegen von Fristen hilfreich, an die sich auch gehalten werden soll („Ich melde mich spätestens in 2 Wochen wieder bei Ihnen!“). Vor allem in der Pflege kann man beobachten, dass Kunden und Patienten eine persönliche Beziehung zu Pflegepersonen haben, was es leichter macht, über Probleme zu sprechen. Dieses Wissen kann man auch dazu nutzen, Probleme nicht eskalieren zu lassen und Mitarbeiter so zu schulen, dass sie als erste Ansprechpartner fungieren können. Empathie und professionelles Auftreten sind hier Voraussetzung.
Wir alle machen Fehler. Die Frage ist, ob wir dazu stehen und daraus lernen. Fehler sind immer eine Chance, sich weiter zu verbessern. Genau dieses Gefühl sollte bei einer Beschwerde der betroffenen wie auch aufnehmenden Person mit auf den Weg gegeben werden. Es ist kein persönlicher Angriff. Wie ist eure Erfahrung im Umgang mit Beschwerden?
Bildquelle: Mahdi Bafande, unsplash