Auch Ärzte machen Fehler – aber wenn es um Leben und Tod geht, sollte das System sie abfangen. Warum das oft nicht funktioniert und wie es besser geht, lest ihr hier.
Irren ist menschlich – jeder kennt wohl diesen Spruch. Und doch tun wir uns in der Medizin in vielen Fällen noch immer schwer damit, eine konstruktive Fehlerkultur zu leben. Und das, obwohl in der Versorgung von Patienten viele Fehler passieren. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit geht davon aus, dass jährlich 19.000 Krankenhauspatienten durch vermeidbare unerwünschte Ereignisse versterben. Fehler treten zum Beispiel bei der Verordnung, Zubereitung und Administration von Medikamenten auf. Als weiteres Problem kommt es im Klinikalltag immer wieder zu Patientenverwechslungen. Patienten erhalten falsche Eingriffe, Medikamente oder Untersuchungen. Solche Zwischenfälle werden begünstigt, wenn die Patienten selbst nicht verstehen, was für sie vorgesehen ist, weil sie nicht aktiv in die Behandlung integriert werden. Entstandene Fehler sind häufig irreversibel und teilweise fatal.
Im Unterschied zur Medizin ist in der Luftfahrt bereits seit den 1980er Jahren anerkannt, dass unvermeidbar Fehler passieren, wo Menschen arbeiten – eine Tatsache, die mit dem Begriff „human factor“ beschrieben wird. Durch Kontrollmechanismen wird das Risiko vermindert, dass ein begangener Fehler es schafft, unbemerkt zu bleiben und fatale Auswirkungen zu haben. Wenn ein Mensch also einen Fehler begeht, der nicht entdeckt oder vermieden wird, so ist vielmehr das System „schuld“ als der Einzelne.
In der Medizin wurde lange geglaubt, man könne Fehler vermeiden, indem man einzelne Personen beschuldigt bzw. dafür zur Verantwortung zieht und darauf hinweist, dass der Fehler nicht noch einmal passieren soll (culture of blame). Doch ohne eine Veränderung der Strukturen ist es nur eine Frage der Zeit, bis dem nächsten Mitarbeiter der gleiche Fehler wieder passiert. Die Sicherheit erhöht sich so nicht. Zudem werden Ängste verstärkt, die Menschen davon abhalten, Fehler einzugestehen.
Damit Fehler überhaupt berichtet und in Zukunft verhindert werden können, ist ein konstruktiver, vertrauensvoller und wertschätzender Umgang wichtig. In Teamsitzungen sollte gezielt die Möglichkeit geschaffen werden, über kritische und unerwünschte Ereignisse zu sprechen. Anschließend sollten folgende Fragen adressiert werden:
Dadurch kann eine sogenannte Safety culture geschaffen werden. Weiterhin können Patientenbefragungen dazu beitragen, Sicherheitslücken aufzudecken. Fehlerberichts- oder CIRS-Systeme können helfen, anonym Informationen zu kritischen Ereignissen zu sammeln. Eine Untersuchung der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2017 zeigt jedoch, dass alleine anonyme Meldesysteme ohne Schulungen, Workshops und den persönlichen Austausch nicht ausreichen, um eine konstruktive Fehlerkultur zu etablieren. Um zu verstehen, warum Fehler passieren, wurden in der Luftfahrt die häufigsten Fehlerursachen analysiert und unter dem Begriff „Dreckiges Dutzend“ zusammengefasst. Sie lassen sich auch auf den Medizinbereich übertragen und werden im Folgenden vorgestellt.
Gerade im Krankenhaus, wo viele Menschen verschiedener Fachbereiche einen Patienten versorgen, gibt es als weiteres Problem häufig Informationsverluste an den Schnittstellen. Sei es bei der Übergabe der Rettungskräfte an die Kollegen der Notaufnahme oder danach die Übergaben auf Station. Das kann an der mangelnden Form und Struktur der Übergaben aber auch an Zeitnot liegen. Teilweise haben Pflegekräfte keine Zeit, an den Arztvisiten teilzunehmen und Ärzte nehmen nicht an der Übergabe der Pflegekräfte teil. Oft werden noch während der Übergabe weitere Handlungen wie Umlagern verrichtet, um Zeit zu sparen, oder es klingeln Telefone. Durch die mangelnde Kommunikation untereinander und das parallele Existieren von „zwei Teams“ sowie die fehlende Konzentration während der Übergaben gehen wichtige Informationen verloren oder werden notwendige Therapien gar nicht oder fehlerhaft fortgesetzt.
In der Luftfahrt ist eine standardisierte Kommunikation Pflicht und wird regelmäßig geübt. In der Rettungsmedizin haben diese Konzepte bereits Einzug gehalten. Beim Prinzip des „repeat back“ werden beispielsweise mündliche oder schriftliche Anordnungen von der Person, die die Maßnahme ausführen soll, mündlich wiederholt, um sicher zu gehen, dass die Anordnung richtig verstanden wurde.
Die Übergabe sollte nach standardisierten Schemata erfolgen und dabei alle Handlungen am Patienten (ausgenommen eine etwaige Herzdruckmassage) unterbrochen werden, damit alle die Informationen wirklich mitbekommen. Die Informationen sollten idealerweise dem Schema der Übergabe folgend an einem Whiteboard notiert und das Verstandene zusammenfassend noch einmal gespiegelt werden. Das Team sollte noch einmal gefragt werden, ob durch den Übergebenden noch etwas vergessen wurde. Dadurch werden die Ressourcen im Team aktiviert um den bestmöglichen Informationsfluss zu gewährleisten.
Prozesse so einfach wie möglich zu gestalten und zu standardisieren kann insgesamt helfen, die Sicherheit zu erhöhen, da weniger Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung erforderlich sind. Checklisten und Standardprozeduren (SOPs) helfen, Fehler zu vermeiden. Software kann – in Verbindung mit elektronischen Patientenakten – auf pathologische Laborwerte aufmerksam machen oder an Kontrollen bestimmter Parameter erinnern.
Patientenverwechslungen können durch Patientenarmbänder und Seitenmarkierungen verhindert werden. Zudem sollte auch eine aktive Rückversicherung bei den Patienten erfolgen („Wer sind Sie?“, „Was soll heute bei Ihnen gemacht werden?“, „Welche Seite ist betroffen?“) um Patienten-, Eingriffs- und Seitenverwechselungen zu vermeiden. Ein informierter und gut einbezogener Patient kann dabei helfen, frühzeitig auf Fehler aufmerksam zu machen.
Standardisierte Kommunikationsprozesse und Checklisten erscheinen zunächst häufig unintuitiv und umständlich – jedoch erhöhen sie die Sicherheit und Effizienz. Zwar hilft Arbeitserfahrung, eigene Routinen auszubilden, jedoch sollte die Patientenversorgung als Teamarbeit begriffen werden, innerhalb derer für alle die gleichen Standards gelten sollten. Das reduziert Missverständnisse und Fehler. Es ist wichtig, sich als Team darauf zu einigen, wie bestimmte Dinge gemacht werden und auch zu hinterfragen, ob Prozesse sinnhaft sind oder nur aus Gewohnheit bestehen.
Durch das Verhindern von Fehlern wird letztlich kostbare Zeit eingespart und Schaden von allen Beteiligten abgewendet. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit fordert deshalb auch für das Gesundheitsweisen, dass die Beschäftigten aller Gesundheitsberufe Patientensicherheit, Sicherheitskultur und das Denken in Versorgungsprozessen von Beginn ihrer Ausbildung verinnerlichen müssen. In der Luftfahrt werden die Kommunikation und die Prozesse regelmäßig verpflichtend geübt, damit jeder und jede sie in den Alltag integriert. Gleiches gilt für kritische oder gefährliche Situationen und wäre auch im Umgang mit Patienten wichtig.
Gerade in unübersichtlichen Situationen kann es schwierig sein, sich Gehör zu verschaffen. Umso wichtiger ist es, Gefahrensituationen im Simulator zu üben und die Zuständigkeiten klar kenntlich zu machen. Ein ruhiger und konstruktiver Umgangston ist auch in Stresssituationen essenziell. Die 15 Leitsätze des Crew Ressource Management nach Rall und Gaba zeigen auf, wie optimale Teamarbeit gelingen kann. Sie lauten:
Die Teamleader sollten also die Ressourcen im Team, ihre eigenen Kapazitäten sowie die Gesamtsituation im Blick haben. Die Umsetzung der oben genannten Leitsätze – gerade in Stresssituationen – stellt hohe Anforderungen an die Verantwortlichen. In der Luftfahrt werden Führungspersonen nicht nur nach fachlichem Wissen, sondern auch nach bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen ausgesucht. Möglicherweise sollten auch im Bereich der Medizin persönliche Eigenschaften in die Entscheidung einfließen, wer leitende Positionen einnimmt.
Führungskräfte-Schulungen könnten helfen, die Teamperformance zu verbessern. Steile Hierarchien, wie sie in der Medizin noch häufig zu finden sind, in denen Vorgesetzte nicht an der Meinung der Teammitglieder interessiert sind, verhindern, dass das Team sein Potential voll ausschöpft.
Eine gute und praxisorientierte Ausbildung legt den Grundstein für das im Arbeitsalltag erforderliche fachliche Wissen. Dabei ist es wichtig, dass sowohl junge Ärzte als auch Pflegekräfte durch Mentoren und Praxisanleiter unterstützt und bei alltäglichen Handlungen supervidiert werden. Für die Supervision muss allen Seiten ausreichend Zeit zur Verfügung gestellt werden. Ein konstruktiver und vertrauensvoller Umgang soll dazu ermutigen, auch Wissenslücken zuzugeben und durch Nachfragen zu füllen.
Während ein Teil der Fehlerursachen durch Schulungen behoben werden kann, sind andere Ursachen den Arbeitsumständen geschuldet. Das Bündnis für Patientensicherheit fordert deshalb auch den Schutz der Mitarbeiter. Ärzte sind keine Halbgötter in Weiß und müssen deshalb genauso wie alle anderen Menschen essen, trinken, schlafen und ausruhen, um leistungsfähig und konzentriert zu sein. Gleiches gilt für alle anderen Mitarbeiter des Gesundheitssystems.
Sowohl technische Ressourcen und Hilfsmittel als auch die Ressource Zeit müssen, wo es möglich ist, zur Verfügung gestellt werden. Dass in Notfallsituationen keine Zeit ist, versteht sich von selbst. Doch dass Pflegekräfte und Ärzte durch Unterbesetzung auch bei alltäglichen Routinehandlungen in überfordernden Zeitmangel getrieben werden, ist letztlich häufig eine von wirtschaftlichen Interessen getriebene Entscheidung. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit fordert: „Patientensicherheit muss integraler Bestandteil der Entscheidungsgrundlagen und Steuerungsgrößen jeder Einrichtung im Gesundheitswesen auf der obersten Leitungsebene werden.“ Nicht zuletzt ist auch die Politik in der Pflicht, für die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen zu sorgen.
Quellen:
https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=67632
https://www.aerzteblatt.de/archiv/41307/Fehler-in-der-Medizin-Anfaelligkeit-komplexer-Systeme
https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/s-2001-14806
https://www.aps-ev.de/pressemeldungen/
https://www.mwv-landingpages.de/risiko-und-sicherheitskultur-im-gesundheitswesen/#gesundheitsversorgung
https://www.springermedizin.de/notfallmedizin/empfehlungen-zum-strukturierten-uebergabeprozess-in-der-zentrale/18676438
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/89009/Der-Faktor-Mensch-ist-eines-der-groessten-Risiken
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/83450/Fehlermeldesysteme-allein-bewirken-noch-keine-neue-Fehlerkultur
Waeschle et al. Fehler in der Medizin; Ursachen, Auswirkungen und Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit (2015), Der Anaesthesist, Vol. 64, 689–704 (2015), DOI 10.1007/s00101-015-0052-4
Bildquelle: Dan Sealey, unsplash