Was haben ein Patient, der in Stresssituationen zusammenklappt, und ein Patient mit Büffelnacken gemeinsam? Beide haben ein Hormonproblem! Lest hier, was dahintersteckt.
Ohne Kortisol läuft’s im Körper nicht rund: Das überlebenswichtige Hormon spielt bekanntlich eine wichtige Rolle bei der Regulation von Kreislauf und Immunsystem. In Stresssituationen wie beispielsweise einem Unfall, einem schweren Infekt oder auch einem Sportwettkampf hält das Hormon den Kreislauf stabil, indem es den Stoffwechsel und den Blutdruck hochfährt. Weiterhin wirkt es entzündungshemmend. Eine Menge Funktionen – eine Menge Probleme, wenn das Hormon mal nicht in dem Maße zur Verfügung steht, wie es eigentlich sollte.
Eine Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) beleuchtete solche Ausnahmefälle. Prof. Stephan Petersenn von der ENDOC Praxis für Endokrinologie und Andrologie, Hamburg, befasste sich bei der Veranstaltung mit dem einen Extrem, der Nebenniereninsuffizienz. Eine Nebenniereninsuffizienz führt zu einem Kortisolmangel, was wiederum erniedrigten Blutdruck, erniedrigten Blutzucker und überschießende Entzündungsreaktionen zur Folge hat. Im schlimmsten Fall kommt es zu einem lebensgefährlichen Schock.
Für eine Nebennierenschwäche gibt es viele verschiedene Ursachen, wie Petersenn ausführt. Die häufigste stellen dabei Autoimmunkrankheiten der Nebenniere da, wie beispielsweise Morbus Addison, die die Nebenniere direkt schädigen und so die Kortisolproduktion einschränken. Von einer sekundären Nebenniereninsuffizienz ist die Rede, wenn die Funktion der Hypophyse gestört ist, sodass die Ausschüttung der nebennierenstimulierenden Hormone CRH und ACTH gestört wird – durch Autoimmunerkrankungen oder auch Tumoren.
Aber nicht nur endogene Faktoren, auch exogene Einflüsse können der Kortisolproduktion einen Riegel vorschieben: Unter einer hochdosierten Glukokortikoid-Langzeittherapie kann es sein, dass Hypophyse und Nebenniere „verlernen“, selbst in ausreichendem Maße Kortisol zu produzieren. Dies wird auch als iatrogene Nebenniereninsuffizienz bezeichnet. Ein abruptes Absetzen einer solchen Therapie kann also ebenfalls zu einem Mangel des Hormons führen; die Medikation muss daher immer langsam ausgeschlichen werden, um dem Körper Zeit zu geben, die eigene Produktion wieder aufzunehmen.
Leider wird die Diagnose Nebenniereninsuffizienz oft erst spät gestellt, wenn es bereits zu einer ausgewachsenen Nebennierenkrise gekommen ist. Denn die Symptome der Krankheit entwickeln sich zunächst schleichend und sind alles andere als spezifisch: Leistungsverlust, Müdigkeit, Arthralgie und Myalgie, psychische Auffälligkeiten wie Psychosen, Depression, Gedächtnisstörungen kommen auch bei anderen, verbreiteteren Krankheiten vor. Seltener kommt es auch zu Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen oder Hypoglykämie.
Auch abseits der Anamnese ist die Diagnose nicht ohne. Einen ersten aussagekräftigen Hinweis kann eine frühmorgendliche Kortisolmessung geben – allerdings unterliegt der Kortisolspiegel vielen verschiedenen Einflussfaktoren, was die Messung und Interpretation erschwert. „Von daher ist es wichtig, dass diese Untersuchungen durch kompetente Hände durchgeführt werden“, so Petersenn. „Da ist ein gewisses Fachwissen gefordert.“ Provokationstests wie ein Insulin-Hypoglykämie-Test, ein Metopiron-Test oder ein ACTH-Test können dabei helfen, die Verdachtsdiagnose Nebenniereninsuffizienz zu bestätigen.
Die gute Nachricht ist aber, dass sich das fehlende Kortisol im Alltag gut durch eine Substitutionstherapie mit Hydrocortison oder auch synthetischen Glukokortikoiden ersetzen lässt. Die Dosisgabe sollte dabei die Tagesrhythmik imitieren. Ein zentraler Bestandteil der Therapie ist die gründliche Schulung von Patienten und Angehörigen und das Ausfüllen eines Notfallausweises, den der Patient immer bei sich tragen sollte. Denn Belastungssituationen stellen in der Therapie nach wie vor eine Herausforderung dar. Bei einer akuten Erkrankung oder bei Operationen beispielsweise sollte die Dosis nach oben angepasst werden.
Besonders wichtig ist auch die Schulung der Patienten in der Selbstinjektion von Cortison für Notfälle. Denn auch wenn sich die Mehrheit der Patienten zu Beginn einer vermuteten Nebennierenkrise rechtzeitig im Krankenhaus vorstellt, erhalten sie dort oft keine fristgerechte Notfallmedikation. Bei so einer Notfallinjektion gilt für Patienten wie Ärzte: nicht zimperlich sein und „lieber etwas mehr geben als Angst vor Nebenwirkungen zu haben“. Diese seien eigentlich nur bei einer chronischen Überdosierung zu erwarten, weiß Petersenn zu beruhigen. „Eine eventuelle einmalige Überdosierung ist weniger schlimm, als das Risiko, an einem Schock aufgrund einer Unterversorgung zu sterben.“
Lieber etwas mehr – das Motto gilt nur für einmalige Dosen. Langfristig richtet auch zu viel Kortisol beträchtliche Schäden im gesamten Körper an. Bei langfristigen hochdosierten Glukokortikoid-Therapien, beispielweise bei rheumatischen Erkrankungen, ist Vorsicht angesagt und Blutdruck, Blutzucker und Knochendichte sollten regelmäßig überprüft werden. Aber wie ein Mangel kann auch ein Kortisolüberschuss aufgrund endogener Vorgänge entstehen. So können Erkrankungen der Nebenniere und der Hypophyse sowie endokrine Tumoren die Kortisolproduktion nicht nur drosseln, sondern auch krankhaft steigern.
Ein besonders schwerwiegendes Krankheitsbild ist in der Hinsicht Morbus Cushing. Es handelt es sich um eine seltene hormonelle Krankheit, bei der ein Adenom der Hypophyse ursächlich ist. Der Tumor führt zur vermehrten Freisetzung von ACTH und in Folge zur überschießenden Produktion von Kortisol. Die Folge dieser Hormonüberflutung ist eine gesteigerte Einlagerung von Fettgewebe im Hals- und Rumpfbereich, während Arme und Beine an Muskelmasse verlieren. Auch Blutgefäße und Haut reagieren auf das Hormon und werden bei der Krankheit empfindlicher und dünner; dies zeigt sich beispielsweise durch eine Neigung zu Hämatomen oder Akne.
„Ein zu viel an Kortisol im Körper führt zu einer Vielfalt von Symptomen, fast jedes Körpergewebe reagiert auf Kortisol“, erklärt Apl.-Prof. Ilonka Kreitschmann-Andermahr, Oberärztin für Neurologie und Spezielle Schmerztherapie an der Neurochirurgischen Klinik der Universitätsmedizin Essen. Zu diesen Symptomen gehören weiterhin auch Bluthochdruck, Osteoporose, und Typ-2-Diabetes. „Wir haben auch im Gehirn viele Kortisolrezeptoren: Es kann zu Depression und anderen psychischen Erkrankungen wie Psychosen und Manien kommen.“
Die Inzidenz des Morbus Cushing liegt bei etwa 1–3 Neuerkrankungen pro 1.000.000 Einwohner im Jahr. Leider gilt auch hier, ähnlich wie bei der Nebenniereninsuffizienz und vielen anderen seltenen Krankheiten: Er wird häufig zu spät entdeckt. Beim Morbus Cushing beträgt die Zeit bis zur richtigen Diagnose im Durchschnitt 3–4 Jahre und in den letzten 20 Jahren hat sich dieses Zeitfenster nicht verbessert. „Deutschland ist nicht besonders schnell in der Erkennung des Morbus Cushing und solcher seltenen Erkrankungen“, mahnt Kreitschmann-Andermahr. Eine weltweite Metaanalyse konnte sogar zeigen, dass die Patienten hierzulande signifikant später als in Vergleichsländern wie USA, Italien und Großbritannien diagnostiziert werden. „Von den Studien, wo man diese Spannbreiten messen konnte, war Deutschland am schlechtesten“, fasst die Expertin zusammen. „Zum Vergleich: USA 35 Monate, Deutschland 56.“
Diese Verzögerung ist für die Patienten sehr tragisch. Denn an sich ist Morbus Cushing mit entsprechender Expertise und interdisziplinärer Zusammenarbeit gut behandelbar. Neurochirurgische oder medikamentöse Verfahren oder auch eine Strahlentherapie ermöglichen die Stabilisierung der Hormonwerte, Linderung der Symptome und können auch schwere Folgekrankheiten verhindern. Durch rechtzeitiges Handeln lässt sich auch die Lebenserwartung der Patienten normalisieren – vorausgesetzt, die Krankheit wird früh erkannt. Sonst bleiben die chronischen Folgekrankheiten wie Depression, Osteoporose und Diabetes bestehen oder bilden sich nur langsam zurück. Die Lebensqualität der Patienten wird dadurch nachhaltig negativ beeinflusst: „Jedes Jahr, dass es zu spät erkannt wird, schafft Leid“, so Kreitschmann-Andermahr.
Woher kommt diese Verzögerung der Diagnose? Das liegt nicht nur daran, dass die Krankheit als seltene Krankheit nicht so bekannt ist. Kreitschmann-Andermahr weist darauf hin, dass sich die Krankheitssymptome allmählich und schleichend entwickeln. Die Patienten warten daher oft lange (ein bis zwei Jahre), bevor sie einen Arzt aufsuchen und werden dann bei verschiedenen Fachärzten vorstellig, denen sie immer nur einen Teil der Symptomatik präsentieren – mit der Akne zum Dermatologen, mit dem Blutdruck zum Kardiologen. „So kann es vorkommen, dass jeder Facharzt nur einen Teil des großen Krankheitsbildes gezeigt bekommt […] und keiner das große Ganze, die verschiedenen Symptome, zusammenfügt und sagt, ‚Das könnte eine Cushing-Erkrankung sein.‘“
Auch wenn sich so die Verzögerung erklären lässt – der Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass es auch schneller gehen kann. Daher ist es wichtig, dass mehr Aufmerksamkeit für das Krankheitsbild geschaffen wird, sodass Ärzte unabhängig von ihrem Fachbereich bei entsprechender Symptomatik eher an die Diagnose Morbus Cushing denken.
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