Das Gespräch mit einem Patienten hat mich nachdenklich gestimmt. Er ist um die 40 und hatte einen Herzinfarkt – das sei wohl die Quittung für den Dauerstress, meint er. Und damit ist er nicht allein.
Heute saß ein Patient vor mir – frisch aus dem Krankenhaus nach Herzinfarkt (STEMI). Ich muss gestehen, dass ich das bei ihm absolut nicht erwartet hatte. Er ist Anfang 40, nur selten in der Praxis, normgewichtig, bis auf Rauchen und eine leichte Hypercholesterinämie soweit keine offensichtlichen Risikofaktoren.
Jetzt also der Herzinfarkt. Und er „packte aus“, wie er es nannte. Dass das so rückblickend ja nicht ganz überraschend sei, er habe früher auch Amphetamine und Ecstasy genommen, Dauerstress von 6:30 Uhr bis abends um 23 Uhr, das viele Rauchen und so weiter. Jetzt möchte er natürlich alles anders machen, weil er auch seinen Kindern noch erhalten bleiben möchte.
Mich hat das Gespräch etwas nachdenklich gemacht. Er ist ungefähr in meinem Alter – und in dieser Altersklasse haben wir aktuell erschreckend viele Patienten. Burnout, Bandscheibenvorfälle, Herzerkrankungen (KHK, Bypass, etc.), einige wenige auch mit malignen Erkrankungen. Und nein, die meisten davon haben keine illegalen Substanzen konsumiert.
Klar, das ist nur mein subjektives Empfinden – und man nimmt Patienten aus der eigenen Alterskohorte sicherlich auch stärker wahr. Aber mein Gefühl ist auch, dass der Patient Recht hatte, als er meinte: „Mit ungefähr 40 kommt die Quittung.“ Er erzählte auch prompt, dass mehrere seiner Freunde jetzt gerade überlegen, was sie für ihre Gesundheit tun könnten, nachdem ihm das jetzt passiert ist.
Wie sagte schon Voltaire? „In der ersten Hälfte unseres Lebens opfern wir unsere Gesundheit, um Geld zu erwerben, in der zweiten Hälfte opfern wir unser Geld, um die Gesundheit wiederzuerlangen. Und während dieser Zeit gehen Gesundheit und Leben von dannen.“ Diese Quittungen des Lebens in der zweiten Lebenshälfte – also dann, wenn man eigentlich mitten im Leben steht – sind oft echte Zäsuren.
Was für mich dabei am Schwierigsten ist: Man geht ja inzwischen davon aus, dass 40 % der Erkrankungen lebensstilbedingt sind. Also zurückzuführen auf Aspekte des täglichen Lebens wie Ernährung, Bewegung/Sport, ausreichend Schlaf, nicht zu viel Stress. Für viele von uns sind diese Faktoren beeinflussbar, aber trotzdem beachten die meisten diese Regeln nicht, bis eben eine Quittung kommt – und selbst dann bei weitem nicht immer. Aber die bis dahin entstandenen Schäden sind meistens nicht mehr rückgängig zu machen.
Woher kommt das? Sind es wirklich alles Fehlentscheidungen des Einzelnen? Wobei „Einzeln“ ja auch eigentlich nicht mehr stimmt, wenn die Prävalenz für Erkrankungen sprichwörtlich durch die Decke gehen (z. B. Depression ca. 10 %, Adipositas > 50 %).
Letztlich kann man es so zusammenfassen: Es gibt offensichtlich Faktoren, die viele Menschen dazu verführen, wider besseres Wissen einen ungesunden Lebensstil anzufangen und fortzuführen. Und wir als Mediziner schaffen es ganz offensichtlich nicht, dem irgendetwas entgegenzusetzen. Unsere Patienten und auch wir Ärzte – denn wir sind ja selbst nicht davor gefeit – zahlen dann den Preis dafür.
Hauptpunkte sind meiner Meinung nach die Werbung und der Konsum. Je mehr Konsum, desto größer das Bruttosozialprodukt – aber auch mehr Glück und Zufriedenheit für alle? Von der Nachhaltigkeit rede ich jetzt mal gar nicht. Klar will jede Firma sich bekannt machen und Geld verdienen, aber da müssen wir als Gesellschaft auch sinnvolle Grenzen setzen. Denn ich habe jetzt mehrfach gelesen, dass allein die Kosten für Diabetes mellitus in absehbarer Zeit unser Gesundheitssystem völlig überlasten.
Wenn wir uns weiterhin nur mit der Diagnostik und Therapie, aber nicht mit der Prävention beschäftigen, rennen wir immer hinter dem Problem her. Da die Prävalenzen für unsere Zivilisationserkrankungen immer weiter steigen, steigen auch unsere Kosten. Ich habe vor über 5 Jahren mal gelesen, dass ein Patient mehr Geld für das Bruttosozialprodukt bedeutet, wenn er krank ist und durch das Gesundheitssystem geschleust wird, als wenn er gesund ist. Wie krank ist das denn?
Aber eine echte Prävention von diesen Erkrankungen kann nicht allein und wahrscheinlich auch nicht mal hauptsächlich in den Arztpraxen laufen – das ist viel zu spät! Was wir bräuchten, wäre eine sinnvolle Beschränkung der (milliardenschweren) Werbeindustrie, Gesundheit als Schulfach und gute finanzielle Anreize, gesund zu bleiben bzw. gesundes Verhalten zu fördern, z. B. die aktuell diskutierte Anpassung der Mehrwertsteuer: Hochprozessierte Lebensmittel mit 19 % besteuern und Gemüse, Hülsenfrüchte etc. am besten steuerfrei anbieten, damit nicht das gesunde Essen mehr kostet.
Ich weiß, jetzt heißt es wieder, dass das nicht zu finanzieren sei. Naja, das ist unser Gesundheitssystem bald auch nicht mehr, also müssen wir uns doch sehr bald mal was einfallen lassen, denn so geht es nicht weiter. Und es geht dabei ja um mehrere Probleme: die Kosten für das Gesundheitssystem, Fachkräfte, die krankheitsbedingt ausfallen und damit den Mangel weiter verschärfen (auch im Gesundheitswesen!) und um ganz viel persönliches Leid. Denn auch bei meinem Patienten jetzt ist noch nicht klar, ob sich das Herz komplett von dem STEMI erholen wird. Und für diejenigen, die das Ganze primär fiskalisch sehen: Die Rechnung für seine Medikamente und weiteren Prozeduren für die nächsten 40 Jahre möchte ich auch nicht sehen!
„There is no glory in prevention“ – „Es gibt keinen Ruhm für Prävention“. Das mag zwar sicher richtig sein, aber ich würde dem inzwischen entgegnen: „Aber man kann mit Prävention eine Menge Leid und Geld sparen.“ Damit nicht mehr so viele Quittungen kommen.
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