Für Menschen hat es sich bewährt, in einer Gesellschaft zusammenzuleben. Damit das aber funktioniert, muss sich jeder einbringen. Leider sehe ich das – beruflich und privat – immer weniger.
Es ist wahrscheinlich zutiefst menschlich, aber für mich doch manchmal immer wieder krass, wie sehr die berufliche und private Wahrnehmung einander beeinflussen.
Meine Kinder werden älter und es wird immer öfter auch über Dinge wie Pflichten im Haushalt diskutiert. Ich stehe dann als Elternteil da und versuche, den Kindern zu erklären, wieso es richtig und wichtig ist, sich freiwillig in der jeweiligen sozialen Gruppe (sei es Familie, Pfadfinder oder Sportmannschaft) zu engagieren. Klar – was Eltern sagen, ist spätestens in der Pubertät uncool und wird allein aufgrund der Tatsache, DASS die Eltern es gesagt haben, erstmal kritisch gesehen. Aber mein Eindruck ist auch, dass es gewisse Konzepte gibt, die heutzutage auch gesellschaftlich einfach nicht mehr so existent sind wie früher.
Für mich aktuell eines der größten Themen ist der Konflikt zwischen den eigenen individuellen – und am besten sofort zu erfüllenden – Wünschen und den Bedürfnissen der Gruppe. Von klein auf wird Kindern in Schule, Kindergarten und auch vielen Elternhäusern gesagt, sie sollen „nur das tun, was sie auch WIRKLICH wollen“. Ich habe mich da schon sehr früh nicht so richtig mit anfreunden können und auch oft mit anderen Eltern darüber diskutiert.
Ein Beispiel aus dem Kindergarten: Jedes Kind soll „so sein, wie es ist“ und auch so akzeptiert werden. Andererseits soll kein Kind gezwungen sein, mit jemandem zu spielen, mit dem es nicht spielen möchte. Das kann durchaus Konflikte geben. Denn viele Kinder fühlen sich dann entweder nicht akzeptiert – eben weil das andere Kind nicht mit ihnen spielen möchte – oder man sagt: „Mensch, jetzt spielt doch zusammen“, was dann schon als Zwang rüberkommen kann.
Die Kinder wurden älter und kamen aus der Grundschule mit großen Ideen, was ihre Kinderrechte seien – und dass Aufräumen oder Mithelfen beim Tisch abräumen damit quasi eine Bitte seien, die wir Eltern an die Kinder richten. Aber wirklich zwingen können wir sie ja nicht, das sei ja gegen ihre Kinderrechte.
Bitte nicht falsch verstehen: Grundsätzlich ist es gut und richtig, wenn Kinder Rechte haben. Und ja, es ist auch wichtig, sie zu selbstbewussten Menschen zu erziehen. Aber mein Eindruck ist, dass wir da teilweise das berühmte Kind mit dem Bade ausschütten: Denn wenn jeder in der Gesellschaft nur darauf achtet, was SEINE Rechte sind und die dazugehörigen Pflichten ignoriert, hat irgendwann die Gesellschaft ein Problem – was wir inzwischen ja auch sehen.
Welcher Beruf, der klassisch eher ein sozialer, letztlich den Bedürfnissen anderer dienender Beruf ist, hat aktuell keine Nachwuchssorgen? Oder die, bei denen es körperlich intensiver zur Sache geht? Egal ob Handwerker-, Pfleger- oder Lehrermangel – letztlich alles Berufe, bei denen oft die eigenen Bedürfnisse zugunsten der Jobanforderungen stärker zurückgestellt werden müssen.
Für mich war der Gegenbegriff zu diesem (krassen?) Individualismus immer der Begriff der Solidarität, wobei ich bei den Recherchen für diesen Artikel festgestellt habe, dass die Definition dieses Begriffs doch sehr schwierig und oft schwammig ist. Also ein Versuch einer – sicherlich subjektiven – Definition: Solidarität bedeutet, dass sich jeder so gut wie möglich einbringt und versucht, seine eigenen Probleme selbst zu lösen und für diejenigen, die das selbst nicht können, mit einzustehen und sie zu unterstützt.
Das bedeutet in der Kindererziehung, dass ich natürlich meine Kinder da unterstütze, wo sie es benötigen, z. B. wenn das kleine Kind natürlich sich selbst kein Essen kochen kann oder später finanziell Hilfe braucht. Aber dafür finde ich – und das ist der Punkt, der mir aktuell oft fehlt – sollten sie sich auch selbst einbringen und z. B. mal die Wäsche aufhängen. Denn da KÖNNEN sie helfen.
Wie aber eingangs beschrieben: Ich sehe das Problem aktuell nicht nur bei uns zu Hause, sondern auch z. B. im Gesundheitssystem. Auch dort höre ich immer häufiger, dass viele auf ihren Rechten beharren, aber nicht überlegen, was sie selbst dazu beitragen könnten. Und die leider immer weniger werdenden, die sich engagieren, brennen dadurch um so schneller aus. Kommentar der anderen: „Selbst schuld, du solltest ja nur das tun, was du selbst auch wirklich willst.“
Es folgen ein paar Beispiele, wo meiner Meinung nach Solidarität untereinander wichtig und sinnvoll wäre. Und ja, die Beispiele sind ebenfalls subjektiv und werden sicher auch in den Kommentaren heiß diskutiert werden:
Der Punkt an der partizipativen Entscheidungsfindung ist, dass der Patient sich auch mit einbringt. Das heißt konkret: Nein, ich kann nicht alle Patienten zurückrufen für die Laborwerte – die Patienten müssen sich schon selbst melden. Natürlich rufe ich in NOTfällen an, aber ich kann das nicht für jeden erhöhten Cholesterinwert tun. Ein weiterer, großer Punkt ist der Lebensstil: Ich kann da nur beratend tätig werden, aber letztlich kann ich auch den Lebensstil nicht wegtherapieren.
Muss es immer „jetzt und sofort“ sein? Vor allem im Notdienst höre ich häufig von den städtischen Kollegen – und leider sehe ich es jetzt auch immer mal wieder auch bei uns auf dem Land – dass Patienten mit Erkältungen am Wochenende im Notdienst landen. Das muss nicht sein, das hat Zeit bis Montag. Es wäre also von Patientenseite sehr solidarisch, sich zu überlegen, ob das nicht während der regulären Praxiszeiten geht.
Politisch wäre wichtig, dass die richtigen Rahmenbedingungen für einen gesunden Lebensstil ermöglicht bzw. vereinfacht werden. Ich fand die Idee nicht schlecht zu sagen, dass unverarbeitete Lebensmittel wie Obst und Gemüse von der Mehrwertsteuer befreit, dafür aber hochverarbeitete Lebensmittel mit 19 % besteuert werden könnten. Aktuell ist es manchmal einfach besser bezahlbar, ungesunde Dinge zu essen. Damit setzt man natürlich Anreize in die falsche Richtung, gerade in Zeiten von hoher Inflation.
Und auch, wenn ich hier vielleicht dafür gegrillt werde: Warum sind Werbeeinschränkungen für ungesunde Lebensmittel so ein Drama? Es geht ja nicht um das Konsumverbot, sondern nur um die Werbung. Denn wenn wir so weiterleben wie bisher, werden wir von den Kosten – allein für das Gesundheitssystem – erdrückt (siehe hier). Dabei helfen uns all die Milliarden, die in unser Gesundheitssystem fließen, nicht unbedingt um wirklich länger oder gesünder zu leben als der Rest der Welt.
Wir müssen uns selbst auch hinterfragen, wie wir die Patienten möglichst optimal versorgen können. Vor allem die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bereichen muss besser werden. Wir Hausärzte müssen eine möglichst gute Basisversorgung anbieten, um die fachärztlichen Kollegen zu entlasten. Damit wir dann auch zeitnah Hilfe (und Termine) für unsere Patienten bekommen können, wenn es wirklich eine spezialisierte Versorgung braucht. Aber dann sollte eben auch die Behandlung wieder an uns abgegeben werden, wenn es nur noch um Routinekontrollen geht.
Hausbesuche anbieten gehört da auch dazu – wobei sich da schon ein Konflikt abzeichnet: Ist er Hausbesuch NOTWENDIG (der Patient ist bettlägerig und kann einfach nicht kommen) oder ist er nur einfacher für den Patienten, etwa weil ihn akut keiner fahren kann?
Zeitnahe Briefe oder am liebsten eine wirklich funktionierende Patientenakte, in die man gemeinsam reinschauen kann, wären natürlich perfekt, damit wir keine zusätzliche Zeit mit Rumtelefonieren verschwenden müssen. Andersrum müssen wir als Hausärzte auch Sorge tragen, dass der Patient alle notwendigen Unterlagen hat, bevor er zum Spezialarzt geht – also z. B. den Patienten mit V.a. Polyneuropathie direkt mit Laborausdruck incl. HbA1c und Vitamin B12 schicken, damit nicht da ein zweiter Termin notwendig ist.
Ich glaube, dass die Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Gesundheitssystems nur dann funktionieren kann, wenn sich alle Beteiligten – Patienten, Politik und medizinisches Personal – erst einmal überlegen, was sie dazu beitragen können, damit es funktioniert. Wir sollten aufhören, „wer sich zuerst bewegt, hat verloren“ zu spielen. Das führt nur zu Burnout derjenigen, die versuchen, sich zu engagieren, während der Rest sich darauf beschränkt „was er wirklich will.“ Das verschärft in meinen Augen den Teufelskreis nur noch.
Vielleicht am besten frei nach John F Kennedy: „Wir sollten uns nicht fragen, was das Gesundheitssystem und die Gesellschaft für uns tun können – sondern wir sollten uns fragen, was wir alle dazu beitragen können. Für die Gesundheit und das Wohlergehen aller.“
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