Das Thema Schlaf scheint besonders zum Jahreswechsel die Menschen zu beschäftigen. Über 22.000 Nennungen findet man bei Google zum Thema „An Silvester länger wach bleiben“. Mehr als zwei Millionen Ergebnisse gibt es allerdings beim Stichwort „Schlafstörungen“.
Seit 2010 sind Schlafstörungen bei Berufstätigen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren um 66 Prozent angestiegen. Das zeigt der aktuelle und sehr ausführliche DAK-Gesundheitsreport mit dem Titel „Deutschland schläft schlecht – ein unterschätztes Problem“. Das Angebot von Produkten, die bei Schläfstörungen helfen sollen, ist schier unerschöpflich: „Schlaftinte“, Soundkissen, Tiefschlafband, Apps und ein Spray für die Füße versprechen „sichere Hilfen“ bei Schlafstörungen zu sein. Mehr Schein als Sein? DocCheck prüft die Produkte und zeigt anhand von Studien, was wirklich hilft.
Der Einschlafprozess: An der Schlafeinleitung sind die Formatio reticularis im Hirnstamm sowie der Thalamus (gr. „Schlafgemach“) und der Hypothalamus im Zwischenhirn beteiligt. Die Formatio reticularis agiert als Signalgeber für den Wachzustand. Er gehört zum aufsteigenden reticulären aktivierenden System (ARAS). Die Kommunikation mit anderen Hirnregionen und die Einleitung des Schlafes sowie das Aufwachen werden über Neurotransmitter vermittelt. Das „Tor zum Bewusstsein“, der Thalamus, wird durch Noradrenalin und Acetylcholin beeinflusst. Auch die Raphekerne spielen mit ihrem Transmitter Serotonin eine wichtige Rolle beim Schlaf-Wach-Rhythmus. Der Transmitter GABA bremst den Hirnstamm vom Thalamus aus. Melden die Augen „Dunkelheit“ an den Hypothalamus, weiß unser Hirn, dass es Zeit ist, zu schlafen. Dies geschieht über Verbindungen mit dem Auge bzw. der Sehbahn. Der Hypothalamus produziert nun weniger von dem Transmitter Histamin und dem Peptid Orexin. Orexin führt zu gesteigerter Aufmerksamkeit. Auch Melatonin aus der Zirbeldrüse ist am Vorgang des Einschlafens beteiligt. Es wird aus Serotonin gebildet. Der Neuromodulator Adenosin ist erst in jüngerer Zeit in den Blickpunkt der Schlafforschung gerückt. Er hat eine sedierende Wirkung, die beispielsweise durch Coffein aufgehoben wird.
Die „6 Ps“ können eine Hilfestellung bei der Ursachenforschung sein. Der Grund für mangelhafte Schlafqualität oder –quantität kann physischer, physikalischer, physiologischer, psychologischer, psychiatrischer oder pharmakologischer Natur sein. Das Schlafbedürfnis ist sehr individuell. Napoleon brauchte vier Stunden, Einstein mehr als zehn, um sich ausgeruht zu fühlen. L-Tryptophan ist die Muttersubstanz von Melatonin und Serotonin (5-Hydroxytryptamin). Es kann die Einschlafzeit verkürzen und bei Depressionen stimmungsaufhellend wirken. Für die Wirkung sind sehr hohe Dosen von 1.000 bis 2.000 mg notwendig. Das Pharmakon muss 20 Minuten vor dem Schlafengehen eingenommen werden. Keinesfalls darf es gemeinsam mit Antidepressiva wie MAO-Hemmern und Serotoninwiederaufnahmehemmern verabreicht werden. Die Folge könnte ein bedrohliches Serotoninsyndrom mit Verwirrtheit, Tremor, Diarrhoe und Hypertonie sein. Das Hausmittel „Heiße Milch mit Honig“ basiert auf dem Wirkprinzip von L-Tryptophan. In der Milch sind größere Mengen dieser Substanz enthalten.
Das „Chronotherapeutikum“ Melatonin wird zur Behandlung von zirkadianen Rhythmusstörungen beispielsweise bei Blinden oder bei Zeitzonenverschiebungen bei Transmeridianflügen mit nachfolgendem „Jet lag“ eingesetzt. Besonders ältere Patienten weisen einen Melatoninmangel auf. Ein Startup-Unternehmen aus Berlin hat eine „Schlaftinte“ mit Melatonin kreiert. Der Hersteller verspricht: „Sleep.ink ist der erste natürliche Schlafdrink mit Melatonin zur Verkürzung der Einschlafzeit“. Weiter heißt es: „Du musst Sleep.ink nicht über einen längeren Zeitraum nehmen, damit es wirkt. Es eignet sich damit auch sehr gut für alle, die nur gelegentlich Probleme mit dem Einschlafen haben“. 7 Trinkfläschchen des als Nahrungsergänzungsmittel (NEM) deklarierten Produktes gibt es für knapp 40 €, macht für einen Monat fast 160 € – wenn das mal keine schlaflosen Nächte bereitet. Hilft das Produkt? Hauptzutat ist 1 mg Melatonin, „verstärkt“ von 50 mg Melissenextrakt, 50 mg Passifloraextrakt und 35 mg Hopfenextrakt. Alles gelöst in Kirschsaft, der sich durch seinen zusätzlichen Melatoningehalt als Booster qualifiziert. Alle Pflanzenextrakte werden als Phytopharmaka bei Schlafstörungen eingesetzt – dann aber in erheblich höherer Konzentration.
Der Saft der Sauerkirsche ist in der in der Lage, die Einschlafdauer zu verkürzen. In einer Studie von Losso et al. wurde bestätigt, dass durch die Gabe von Montmorency Sauerkirschsaft die empfundene Schlafqualität verbessert wurde und die Schlafdauer um 84 Minuten zunahm. Als Wirkmechanismus wurde identifiziert, dass der Inhaltsstoff Procyanidin B-2 in die Bildung von L-Tryptophan eingreift, der Vorstufe des Melatonins. Das L-Tryptophan abbauende Enzym Indolamin-2,3-Dioxygenase (IDO) wird gehemmt. Ist Sleep-Ink damit rehabilitiert? Nein, die Probanden der „Kirsch-Studie“ tranken zwei mal 240 ml Saft über einen Zeitraum von zwei Wochen. In einer Flasche Sleep-Ink sind nur 40 ml und der Hersteller verspricht, es wirke sofort. Hauptinhaltsstoff ist jedoch Melatonin. Seine Wirkung bei bestimmten Formen von Schlafstörungen bei betagten Patienten ist erwiesen. Orale Dosen im Bereich von 1 bis 5 mg führen zu Plasmaspiegeln, die zwischen dem 10- und dem 100-fachen der physiologischen nächtlichen Spiegel liegen. Oral verabreichtes Melatonin führt aber zu sehr stark schwankenden Wirkstoffspiegeln, wie eine Studie von Proietti et al. belegte. Hinzu kommt, dass Melatonin nur eine sehr kurze Halbwertszeit von etwa 30 Minuten und eine Wirkdauer von circa zwei Stunden hat. Deshalb wäre es nur bei Einschlafstörungen sinnvoll. Melatonin ist in Deutschland als rezeptpflichtiges Arzneimittel für Patienten über 55 Jahren mit Melatoninmangel induzierten Schlafstörungen zugelassen und setzt seinen Wirkstoff retardiert über die gesamte Schlafdauer frei.
Unabhängig von der Wirksamkeit ist fraglich, ob ein Produkt mit Melatonin und klarem Wirksamkeitsversprechen überhaupt außerhalb der Apotheke ohne Rezept vertrieben werden darf. Eine Health-Claims-Zulassung verhindert nicht die Einstufung eines Produktes als Arzneimittel. Dies hat das OLG Celle in seinem Urteil vom 02.02.2017 (Az. 13 U 153/15) zu Melatonin entschieden. Für die Abgrenzung von Lebensmitteln und Arzneimitteln kommt es darauf an, ob ein Stoff in der angegebenen Dosierung eine pharmakologische Wirkung hat oder nicht. Arzneimittel bedürfen im Gegensatz zu Lebensmitteln der Zulassung (§ 21 I AMG). Ohne Zulassung sind sie nicht verkehrsfähig. Werden solche nicht zugelassenen Arzneimittel beworben, verstößt dies auch gegen § 3 a HWG. Das Gericht ist der Auffassung, dass Kapseln, die 5 mg Melatonin enthalten, als Arzneimittel im Sinne von § 2 Arzneimittelgesetz (AMG) und nicht als Lebensmittel eingestuft werden müssen. Mitentscheidend war für die Begutachtung, dass das rezeptpflichtige Produkt Circadin ® mit 2 mg Tagesdosis als Arzneimittel zugelassen sei und die zu dem Produkt vorliegenden Fachinformationen eine therapeutische Wirkung belegen würden. Zudem würden Stellungnahmen des Bundesinstituts für Risikobewertung und des Bundesinstituts für Arzneimittel aus den Jahren 1996 bzw. 2011 vorliegen, wonach es sich bei Produkten mit dem Wirkstoff Melatonin um zulassungspflichtige Arzneimittel handelt. Das VG Köln hat entschieden, dass zum Verzehr bestimmte Kapseln in einer Dosierung je Kapsel von 0,5 mg bis 5 mg Melatonin stets Funktionsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 a) AMG sind. In einem Positionspapier des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wird ebenfalls die Auffassung vertreten, dass Melatonin überwiegend eine pharmakologische Wirkung hat. Auf Anfrage teilte die Kammeranwältin Kathi Tomann der Apothekerkammer Mecklenburg-Vorpommern mit: „Darüber hinaus gelten gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG ebenfalls Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen als Arzneimittel, die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung von menschlichen oder tierischen Krankheit oder krankhaften Beschwerden bestimmt sind. (Präsentationsarzneimittel) Erwecke ich also mit der Werbung den Eindruck, dass mein Produkt geeignet ist Krankheiten zu heilen, zu lindern oder zu verhüten, dann fällt dieses Produkt ebenfalls in den Anwendungsbereich des Arzneimittelgesetzes“.
Nach Meinung des sehr umfangreichen DAK-Gesundheitsreports 2017 werden Apps und Geräte zur Schlafkontrolle und -optimierung von etwa jedem Siebten verwendet. „Von Expertinnen und Experten aus Schlafforschung und schlafmedizinischer Praxis werden diese jedoch weit überwiegend als nicht nützlich bewertet“, heißt es in dem Bericht. Dennoch existieren auch Studien, die derartigen technischen Hilfsmitteln sehr wohl einen Nutzen zuweisen. Eine Arbeitsgruppe untersuchte, ob Smartphone-Apps, Schlaftracker, fest-installierte oder tragbare Hilfsmittel die Schlafqualität verbessern können. „Diese Technologien haben das Potenzial, sowohl die kollektive als auch die individuelle Schlafgesundheit je nach Implementierungsmethode zu verbessern“, so das Ergebnis der Studie. Apps wie Deep Sleep oder Dream On verstehen sich daher als Schlafmonitor und motivieren mit guten Ratschlägen.
Zahlreiche elektronische Hilfsmittel versprechen durch eine Beeinflussung der Hirnwellenaktivität die Einschlafdauer zu reduzieren und die Schlafqualität erheblich zu verbessern. Das Soundkissen Aivi soll für 190 Euro mit Geld-zurück-Garantie eine effiziente Einschlafhilfe sein. „Die Technologie basiert auf der Neurowissenschaft. Es ist schon länger wissenschaftlich bewiesen, dass akustische Signale, sogenannte Binaurale Beats, die Aktivität des Gehirns messbar beeinflussen. So können wir auch mittels sehr niedriger Frequenzen den Entspannungs- und Schlafbereich im Gehirn direkt ansprechen und messbar herunterfahren“, so der Hersteller. Seit ihrer Entdeckung durch den Physiker Heinrich Wilhelm Dove 1839 ist die Wirkung der binauralen Beats unter Wissenschaftlern umstritten. Während die Erfahrungsberichte überwiegend vielversprechend klingen, sind die Studienergebnisse dagegen ernüchternd. Das vom Hersteller angeforderte und binnen einer Stunde gesendete Studienmaterial ist leider ein Flopp: Die meisten Studien sind veraltet, mit kleiner Probandenzahl und viele Arbeiten wurden nicht publiziert, sondern nur in Kongressbänden veröffentlicht.
„Das SoundLife Sleep System wirkt positiv auf schlafstörende Faktoren und optimiert so den individuellen chronobiologischen Rhythmus der Schlafpatienten“, verspricht der Hersteller Samina. Insgesamt stehen vier Basis-Musik-Medizin-Programme zur Verfügung, darunter ein Langzeit-Programm von über acht Stunden sanfter Musik-Medizin. „Die einzigartigen Klänge sprechen das vegetative Nervensystem an und stimulieren, im Noradrenalinrhythmus, den Parasympathikus“. Da hat aber einer in Pharmakologie nicht aufgepasst. Erstens hat Noradrenalin keinen Rhythmus und zweitens agiert der Transmitter im Sympathikus das Nervensystem, das für Wachheit und nicht für Schlaf und Entspannung sorgt. Der Firmengründer Prof. Dr. med. h.c. Günther W. Amann-Jennson ist überzeugt: „So werden im Schlaf wieder die richtigen Gene zur richtigen Zeit ein- und abgeschaltet“. Komisch, dass dieser Hochschullehrer nicht eine einzige Studie publiziert hat.
Wenn man denkt, mehr Humbug geht nicht, dann irrt man. Physikalische Wirkung verspricht auch das Tiefschlafband von Swiss Harmony gegen Schlafstörungen. Es sorgt für tiefen Schlaf, sofern die Schlafstörungen eine Folge von elektromagnetischen und geopathischen Umwelteinflüssen sind, also bei Belastung durch Elektrosmog und Erdstrahlen. So ein technischer Hochleistungsartikel hat seinen Preis zwischen 185 und 275 Euro.
Preiswerter ist da das „Schlafmittel Magnesium Tiefschlaf Spray“. Der Hersteller verspricht: „Genießen Sie erholsamen Schlaf ohne starke Schlaftabletten. Schlafen Sie durch die Nacht mit Magnesium-Öl, Zedernholz, Lavendel, Majoran und Muskatellersalbei.“ Darüber, dass Magnesium nicht in nennenswerten Mengen über die Haut resorbiert wird, berichtet Doccheck bereits ausführlich. Das gilt auch für die „Sleep Well Magnesium Bade Flakes“ und ähnliche Produkte. Ätherische Öle als Aromatherapeutika per se als unwirksam einzustufen, wäre hingegen zu einfach. Bestimmte Inhaltsstoffe des Jasmins wirken an GABA-Rezeptoren und ähnlich wie Benzodiazepine. Das hat einer der führenden Duftforscher, Prof. Hanns Hatt, mehrfach bewiesen. Die S3- Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf“ gibt sich skeptisch: „Hinsichtlich der Aromatherapie liegt eine Meta-Analyse vor, die zwar eine hoch signifikante Schlafverbesserung berichtet, die allerdings ausschließlich auf in koreanischer Sprache publizierten Studien mit Stichproben aus Korea basiert, sodass eine Übertragbarkeit fraglich bleibt“. Statt Spray, Soundkissen, App oder Schlaftrunk sollte man lieber auf eine gesunde Schlafhygiene achten. Licht aus, Fernseher raus und warme Füße. Die New York Times titelte kürzlich: „Schlaf ist das neue Statussymbol“. In diesem Sinne: Gönnen Sie sich was.