Bekommen Kinder eine rezessive Erbkrankheit nur von einem Elternteil vererbt, sind sie zwar Träger des defekten Gens, aber symptomlos – so die bisherige Annahme. Eine Entdeckung von Schweizer Forschern könnte diese Regel aber auf den Kopf stellen.
Jedes Kind erhält je einen Chromosomensatz von der Mutter und einen vom Vater. Vom Großteil aller Gene besitzt jeder Mensch daher je zwei Exemplare – Allele genannt. Viele seltene Erbkrankheiten treten nur dann zutage, wenn beide Allele eines Gens einen Defekt tragen. Ist hingegen nur eines betroffen, kann das andere kompensieren, und es treten keine Symptome auf – so die bisherige Annahme. Man spricht auch von rezessiven Erbkrankheiten.
Dazu gehören unter anderem viele immunologische Störungen, die auf Mutationen in einem der schätzungsweise 2.500 bis 5.000 immunsystemrelevanten Gene beruhen. Diese zeigen sich durch Infektanfälligkeit oder Autoimmunität. Forscher um Prof. Mike Recher von der Universität und dem Universitätsspital Basel zeigen nun aber exemplarisch an einer rezessiven Erbkrankheit, dass auch der Defekt in nur einem Allel das Risiko birgt, dass die Funktion des Immunsystems eingeschränkt ist. „Solche Fälle wurden bisher zu oft ignoriert, davon ausgehend, dass nur Defekte in beiden Allelen problematisch sind“, so Recher. „Tatsächlich können Träger aber lebensbedrohlich erkranken, oft im Erwachsenenalter und mit teilweise neuartigen Symptomen.“
Die Studie erscheint im Journal of Allergy and Clinical Immunology. Darin berichten die Forscher von Mutationen im Bauplan für ein Enzym, das für die Vielfalt an Antikörpern und T-Zellen entscheidend ist. Mutationen in beiden Allelen dieses Gens namens LIG4 führen zu einer massiven Störung der Immunabwehr und in der Folge zu einem hohen Risiko für schwere Infektionen bereits im frühen Kindesalter.
Die Träger nur eines defekten LIG4-Allels galten bisher als symptomlos. Recher und sein Team berichten nun aber von mehreren Fällen, in denen Personen dennoch ein schweres, aber nur teilweise an die „Muttererkrankung“ erinnerndes Krankheitsbild zeigten. „Nur ein funktionierendes LIG4-Gen scheint bei ihnen nicht auszureichen“, so der Immunologe.
In den Tausenden am menschlichen Immunsystem beteiligten Genen gibt es viele Mutationen in nur einem Allel, deren Bedeutung für eine funktionierende Immunabwehr im Verlauf eines ganzen Lebens noch unzureichend bekannt ist. „Unsere und weitere neue Ergebnisse zeigen, dass solche Defekte viel häufiger als angenommen Ursache für bisher unerklärte Immunstörungen sein können.“
„Wir vermuten, dass seltene rezessive Erbkrankheiten teilweise noch unbeschriebene häufigere Gegenstücke haben, mit teilweise neuartigen Symptomen, tendenziell späterem Auftreten im Leben und anderem Vererbungsmuster“, fasst Recher zusammen. Es werde jedoch auch weiterhin gesunde Träger geben. „Neben der Genetik spielen Umweltfaktoren wie Infektionen oder die Epigenetik eine Rolle.“
Wichtig sei, die neuen Erkenntnisse bei der Diagnostik zu berücksichtigen. „Wenn man molekular versteht, was das Problem ist, können sich plötzlich sehr gezielte, oft nebenwirkungsarme Behandlungsmöglichkeiten auftun, die nicht nur die Symptome, sondern die Ursache bekämpfen.“
Dieser Artikel beruht auf einer Pressemitteilung der Universität Basel. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Michael Dziedzic, unsplash