Eigentlich weiß er es als Allergiker besser – den Erdnussriegel isst Herr Roth trotzdem. Als wir mit dem RTW bei ihm vorfahren, ist die Anaphylaxie offensichtlich. Also warum reagiert er dann so gar nicht auf Adrenalin, H1-Blocker und Kortison?
Frührentner Roth sollte es zwar nicht, aber tat es trotzdem: Er aß den Erdnussriegel. Bisher ging es auch immer. Beim letzten Mal zwickte der Magen zwar etwas, aber mehr war auch nicht passiert. Herr Roth wusste, man muss gut aufpassen, wenn man eine Allergie hat, aber nachdem diese bei ihm nicht ausgeprägt war, stellte er sich immer wieder vor, wie der Riegel im Mund zu einer braunen, zuckrigen Masse verschmolz und dann den Gaumen durch einen Mix aus Schokolade und Erdnuss erfreute. Was sollte er außerdem machen? Den Riegel einfach wegschmeißen? Und schon war es passiert und der Riegel verzehrt. Jetzt noch ein Mittagsschläfchen auf der Couch und der Tag war perfekt. Oder auch nicht: Denn als Herr Roth einige Stunden später aufwachte, traute er vor dem Badezimmerspiegel seinen Augen kaum: Er sah aus wie ein aufgeblasener Ballon. Die Augen so dick zugeschwollen, dass nur noch zwei Schlitze zu sehen waren. Der ganze Kopf schien ein einziges Quincke-Ödem zu sein. Und die Atmung wollte auch nicht mehr so richtig: Die Tatsache, dass Herr Roth auch noch Luftnot verspürte, machte ihm Angst. Er griff das Telefon und rief die Rettungsleitstelle an. So kamen mein Kollege Fred und ich ins Spiel: „Anaphylaxie, Atembeschwerden.“
Unser RTW radierte Spuren auf den heißen Asphalt vor Herrn Roths Einfamilienhaus. Herr Roth stand in seiner Haustür. Kurze Hosen und das geblümte Hawaiihemd passten zur Hitze dieses Tages. Ich sah von weitem, dass die Verdachtsdiagnose der Leitstelle stimmen musste: Der ganze Kopf und der Oberkörper schienen angeschwollen. Herr Roth konnte kaum aus seinen Augen sehen. „Ich habe den blöden Erdnussriegel gegessen und scheinbar reagiert. Und schlecht Luft bekomme ich nun auch noch.“ Ich sah ihn mir an und mir war in diesem Moment klar, dass mein Kollege Fred und ich es mit einer ausgewachsenen Anaphylaxie zu tun hatten. Meine letzten beiden Anaphylaxien sahen exakt auch so aus, bevor sie in Grad III mündeten.
Die Sättigung lag bei 89 Prozent. Passt irgendwie – vermutlich ein Schleimhautödem samt Bronchospasmus. Also rein in den RTW, 0,5 mg Adrenalin in den Oberschenkel. „Es wird kurz sehr unangenehm, aber das geht gleich vorbei“, sagte ich zu Herrn Roth. Fred bereitete eine Verneblermaske mit Adrenalin vor, setzte sie auf Herrn Roths Gesicht und schon blubberte die zusammengemischte Flüssigkeit im Behälter und verdampfte zu einem feinen Nebel, den der Mann inhalierte. Nachdem ich meinen Patienten als potenziell kritisch einstufte, forderte ich mir einen Notarzt an die Einsatzstelle an. Dann der venöse Zugang. Fred zog unaufgefordert einen H1-Blocker und Kortison auf, so wie es die Leitlinien zu diesem Zeitpunkt vorschrieben. Das EKG zeigt eine Tachykardie, der Blutdruck ist von den ursprünglich 220 wieder auf 160 abgesunken. Den Anstieg schrieb ich dem Adrenalin im Muskel zu. Ich fühlte mich als Notfallsanitäter ganz in meinem Element, konnte nun endlich Patienten wirkungsvoll helfen, ohne erst das Eintreffen eines Arztes abwarten zu müssen, so wie es früher als Rettungsassistent der Fall war.
Aber Herrn Roth ging es trotz allem nicht besser – gar nicht. Klar, der Sauerstoff hob die Sättigung etwas an, aber das beseitigte die Atembeschwerden nicht. Auch die Schwellungen schienen nicht zurückzugehen. Im Gegenteil: Herr Roth sagte, er könne langsam nicht mehr, und es werde immer schlimmer und wir sollten ihm doch helfen. Ich sah zum Funkhörer und deutete meinem Kollegen, nach dem Notarzt zu fragen. Die Antwort, dieser sei noch immer an einer Einsatzstelle gebunden und brauche noch 20 Minuten, gefiel mir nicht. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr so erhaben über die Situation, denn nachdem die Diagnose auf der Hand zu liegen schien, hatte ich mir keinen Plan B zurechtgelegt. Auch die Klinikanfrage brachte keine Erleichterung: Alle Kliniken im näheren Umkreis hatten die Aufnahme aus Kapazitätsgründen abgelehnt. Das nächste aufnahmebereite Krankenhaus lag 40 Minuten weg.
Aber was machte ich denn so lange, einfach warten? Schließlich hatte ich alles ausgeschöpft. Mir fiel ein, dass ich Herrn Roth noch gar nicht abgehört, geschweige denn korrekt nach ABCDE untersucht hatte. Aber wozu auch, wenn doch auf den ersten Blick zu sehen war, was vorlag? Ich legte meinen Stethoskopkopf auf den Thorax – und sank wie bei einem Luftpolster mehrere Zentimeter ein. „Ja … irgendwie kommt es mir vor, als sei alles voller Luft“, sagte Herr Roth. Ich hörte linksseitig keine Atemgeräusche. Als ich Herrn Roth auf den Oberarm klopfte, hörte sich das hohl an, so wie ein Plopp, Plopp, Plopp. Herr Roth sagte auf die Frage nach Vorerkrankungen oder Verletzungen, er sei drei Wochen zuvor von der Leiter gestürzt und mit seiner linken Seite direkt auf die Leiter geprallt. Dabei tauchte in mir das Bild einer brechenden Rippe auf, und wie sich diese erst am heutigen Tag nach einer blöden Bewegung Herrn Roths in den linken Lungenflügel bohrte und dem Pleuraspalt Zugang zur eingeatmeten Luft verschaffte. Ich musste mein Augenmaß nochmals überdenken: Der Patient hatte keine Allergie. Er hatte eine traumatisch bedingte, kollabierte Lunge. Er hatte einen Pneumothorax mit dem massiven Durchtritt von Luft ins Gewebe, der Herrn Roth ödematös aussehen ließ. Ich lag völlig daneben.
Ich war beruhigt, denn der eingetroffene Notarzt sagte auch, dass dies „aber eine schöne Anaphylaxie“ sei und war genauso erstaunt über meinen Verdacht. Und ab da war alles klar. Der Transport ging in den Schockraum einer städtischen Klinik. Auch hier wurden wir mit den Worten begrüßt, was wir denn hier wollten, der Patient hätte doch eine massive Allergie und das sei schließlich ein chirurgischer Schockraum.
So weit, so gut. Wir und vor allem Herr Roth konnten von Glück reden, dass er durch die Rippenverletzung nicht noch einen Spannungspneumothorax entwickelt hatte. In diesem Fall hätte Herrn Roth jeder seiner Atemzüge ein Stückchen näher in eine lebensgefährliche Situation gefahren. Eine Thoraxdekompression wäre unausweichlich gewesen. Meine Lehren für diesen Tag hatten es in sich:
Ihr könnt mir getrost glauben: Ich bin sehr froh, dass diese Geschichte glimpflich ausgegangen ist. Herr Roth konnte einige Zeit später gesund aus der Klinik entlassen werden. Auch die Medikamentengabe hatte keine Konsequenz.
Noch am Krankenhaus musste ich an den Zeitpunkt kurz nach meiner Ergänzungsprüfung zum Notfallsanitäter denken. Ich fühlte mich wie ein Rettungs-Gott und sah die Urkunde als die Frucht meiner harten Arbeit, die ich die letzten Monate davor investiert hatte. Mit den Möglichkeiten, die dem Notfallsanitäter zur Verfügung stehen, konnte ich nun jede Situation bestehen und auch effektiv helfen. Nicht so wie früher als Rettungsassistent, wo ich im Akutfall einfach einen Notarzt rief, es bei einem venösen Zugang beließ und hoffte, der Doc spaziere bald zur Tür herein und übernehme das Zepter.
Nach Betrachtung meiner letzten Einsatzjahre als Notfallsanitäter gönne ich jedem frischen Notfallsanitäter seinen glückshormonausschüttenden Höhenflug mit Unverwundbarkeitskomplex. Nur eines darf dabei nicht passieren: Den Handlungskorridor eines Notfallsanitäters mit einer nicht hinterfragten Blickdiagnose zu kombinieren, denn sonst kann die Lage ganz schnell unfreundlich werden. Symptome und einen Fall wie diesen habe ich so übrigens nur ein einziges Mal erlebt. Deswegen noch meine letzte Lehre, die ich an diesem Tag mitnahm: Erwarte das Unerwartete.
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