Um den Feinstaub ranken sich reichlich Mythen, sowohl was die Exposition als auch die Bedeutung für die Krankheitsentstehung angeht. Wir entzaubern ein paar davon für euch.
Luftverschmutzung macht krank, klarer Fall. Was aber nicht heißt, dass jede These zu diesem Thema automatisch in soliden Fakten wurzelt. Wir haben einen Strauß Mythen-Ballons für euch zusammengestellt, aus denen es die Luft herauszulassen gilt.
Das wird durch ständiges Wiederholen nicht richtiger. Die Feinstaubbelastung – wir reden über Feinstaub mit einem Durchmesser < 2,5 µm, also über den vielzitierten PM2,5 – ist deutlich zurückgegangen. Ablesen lässt sich das unter anderem an den Zahlen, die das Umweltbundesamt regelmäßig zusammenträgt – hier die Daten bis einschließlich 2020. Begonnen wird bei den PM2,5-Statistiken typischerweise mit dem Jahr 2010, weil die Messwerte aus der Zeit davor nicht zuverlässig genug sind.
Fangen wir an mit der bevölkerungsgewichteten Feinstaubbelastung mit PM2,5 im Jahresdurchschnitt. Die betrug 2010 im Mittel noch 13,7 µg/m³. Im Jahr 2020 waren es 8,6 µg/m³. Was kein Pandemie-Effekt ist, denn im Jahr 2019 sah es nicht viel anders aus und der langjährige Trend ist eindeutig, wie Abbildung 1 zeigt.
Abbildung 1: Bevölkerungsgewichtete Feinstaubbelastung mit PM2,5 im Jahresdurchschnitt. Credit: Umweltbundesamt.Mit anderen Worten: Im Schnitt liegt die gesamte deutsche Bevölkerung unter dem aktuellen WHO-Grenzwert für PM2,5 von 10 µg/m³. Gibt es vielleicht stärker belastete Bevölkerungsgruppen? Eindeutig ja, aber auch hier ist der langjährige Trend positiv, wie Abbildung 2 veranschaulicht. Sie zeigt, dass es keine Bevölkerungsgruppen gibt, die den aktuellen EU-Grenzwert von 25 µg/m³ reißen und der deutlich strengere WHO-Grenzwert von 10 µg/m³ wurde 2019 von knapp 70 % und im Pandemiejahr 2020 von gut 80 % unterschritten. Zum Vergleich: 2010 waren es weniger als 5 %.
Abbildung 2: Bevölkerungsanteile je Feinstaubklasse (PM2,5). Credit: Umweltbundesamt.
Was sich geändert hat, siehe oben, sind die Grenzwerte. Die WHO hat ihren Feinstaub-Grenzwert 2021 auf 5 µg/m³ noch einmal halbiert. Und dieses Ziel – auch das zeigt Abbildung 2 – erreicht in Deutschland bisher im Großen und Ganzen noch niemand. Dahingehend gibt es also Bedarf für weitere Verbesserungen. Die Frage ist, wie groß deren Effekt sein wird. Womit wir bei Mythos 2 wären.
Saubere Luft ist eine gute Sache, da wird niemand widersprechen. Insofern sind alle Bemühungen, die Luftqualität zu verbessern, positiv zu sehen. Mitunter wird allerdings so getan, als ob eine über das bisher erreichte Maß hinausgehende Verringerung der Feinstaubbelastung dramatische Effekte auf die Bevölkerungsgesundheit haben wird. Das geben die wissenschaftlichen Zahlen eher nicht her und auch das Umweltbundesamt betont, dass die in Zukunft noch erreichbaren Effekte eher geringer ausfallen dürften als das, was schon erreicht wurde.
Zu beachten ist, dass es sich allen Aussagen zum Zusammenhang zwischen Krankheitslast und Feinstaub nur um Modellierungen handelt, aber nehmen wir die Modellierungen für bare Münze. Demnach sind nur etwa 6 % der COPD-Krankheitslast, gemessen als Disability-Adjusted-Life-Years (DALY), und 7 % der Lungenkrebs-Krankheitslast in Deutschland auf Feinstaubbelastung zurückzuführen. Diese Quoten liegen für das Rauchen wesentlich höher. Klar ist: Das Problem von Feinstaub als Ursache für Krankheit ist in den Städten größer als auf dem Land. Aber auch auf dem Land ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir kommen zu Mythos 3.
Die Feinstaubbelastung in den Städten ist höher als auf dem Land und das ist mit einer erhöhten Krankheitslast assoziiert. Dafür sprechen viele internationale Kohortenstudien. Einen Überblick gibt die vielzitierte Veröffentlichung des ESCAPE-Projekts, die Daten von 22 europäischen Kohorten zusammengetragen hat. Was nicht stimmt, ist, dass Landluft automatisch gesund ist. Insbesondere in jenen geruchsintensiven Situationen, in denen üblicherweise der „Landluft ist gesund“-Satz fällt, gilt das durchaus nicht uneingeschränkt.
Gezeigt haben das niederländische Wissenschaftler, die sich vor einigen Jahren in einer Studie mit den gesundheitlichen Folgen von Emissionen durch landwirtschaftliche Betriebe mit Tierhaltung auseinandergesetzt haben. 2.308 Erwachsene nahmen teil, gemessen wurde der etwas gröbere Feinstaub PM10. Der Endpunkt war Atemwegsobstruktion und sortiert wurde nach Entfernung des jeweiligen Wohnorts vom nächsten landwirtschaftlichen Betrieb. Fazit: Wer näher als 1.000 Meter an einem landwirtschaftlichen Betrieb mit Tierhaltung wohnte, bei dem litt die Lungenfunktion. Aber warum eigentlich? Was macht den Feinstaub zur Krankheitsursache? Kommen wir zu Mythos 4.
Hartnäckig hält sich der Mythos, wonach Feinstaub – und Zigarettenrauch und anderes, was freiwillig oder unfreiwillig inhaliert wird – Mutationen in den Epithelzellen der Atemwege begünstige und dadurch Krebs verursache. Dahinter steckt die in allen Lehrbüchern zu findende Mutationshypothese der Karzinogenese, wonach eine zunehmende Mutationslast und insbesondere Treibermutationen früher oder später zur unkontrollierten Ausbreitung der betroffenen Zellen führen.
Auch Lungenkrebs braucht Mutationen, das ist unstrittig. Aber daran, dass Feinstaub primär über Mutagenese kanzerogen wirkt, sind seit einigen Wochen noch mehr Zweifel erlaubt als vorher schon. Wissenschaftler aus dem TRACERx-Konsortium haben Mitte April in Nature die bisher umfangreichste Arbeit vorgelegt, die untersucht hat, wie Luftverschmutzung – hier wieder insbesondere PM2,5 Feinstaub – Krebs verursacht. Basis der Arbeit ist eine große Kohortenstudie mit Teilnehmern aus Europa, Südostasien und Kanada.
Das an sich schon erstaunliche Primärergebnis dieser Arbeit war, dass Feinstaub vor allem dann mit einem höheren Lungenkrebsrisiko vergesellschaftet ist, wenn Mutationen im endothelialen Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR) vorliegen. Weitere Untersuchungen zeigten dann, dass dahinter wahrscheinlich ein außer Kontrolle geratener Entzündungsmechanismus steckt. Demnach kommt es bei Exposition mit PM2,5-Feinstaub zu einer Einwanderung von Makrophagen, die den Feinstaub abräumen und dabei unter anderem Interleukin-1β freisetzen.
So weit, so sinnvoll. Die Wissenschaftler konnten jetzt aber zeigen, dass dieser Makrophagen-Influx EGFR-mutierte Typ-II-Zellen des Alveolarepithels zumindest teilweise in eine Art Progenitor-Zellstatus zurückversetzt – mit der Folge, dass sie sich lebhafter und letztlich unkontrolliert teilen. Gleichzeitig konnten die Wissenschaftler mit Hilfe von Whole-Genome-Sequencing ausschließen, dass dies auf neue Mutationen zurückgeht. Die durch eine Reihe weiterer Experimente hinterlegte Hypothese der TRACERx-Forscher ist, dass eine durch PM2,5-Feinstaub induzierte, chronische IL-1β-Produktion in EGFR-mutierten Epithelzellen die Transkription in einer Weise verändert, die das Risiko für unkontrolliertes Zellwachstum deutlich erhöht.
Feinstaub wäre demnach nicht genotoxisch oder mutagen, sondern würde primär über Entzündungsmechanismen wirken, die bei bestimmten genetischen Konstellationen die Krebskaskade anstoßen und dann auch unterhalten. Ganz neu ist dieses Modell nicht: Krebsentstehung als Folge überschießender Entzündungsreaktionen wird u. a. auch bei Asbest, Aflatoxinen und Nitrosaminen diskutiert. Die Verknüpfung mit spezifischen genetischen Risikokonstellationen dürfte für dieses Entzündungsmodell der Kanzerogenese Rückenwind bedeuten – beim Thema Feinstaub und Lungenkrebs und vielleicht darüber hinaus.
Quellen:
Umweltbundesamt. Gesundheitliche Bedeutung von Feinstaub | Umweltbundesamt, 2022.
Beelen R et al., Effects of long-term exposure to air pollution on natural-cause mortality: an analysis of 22 European cohorts within the multicentre ESCAPE project. The Lancet, 2013. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(13)62158-3.
Borlée F et al., Air Pollution from Livestock Farms Is Associated with Airway Obstruction in Neighboring Residents. Am J Resp Crit Care Med, 2017. https://doi.org/10.1164/rccm.201701-0021OC.
Hill W et al., Lung adenocarcinoma promotion by air pollutants. Nature, 2023. https://www.nature.com/articles/s41586-023-05874-3.epdf.
Fishbein A et al., Carcinogenesis: Failure of resolution of inflammation? Pharm & Ther, 2021. https://doi.org/10.1016/j.pharmthera.2020.107670.
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