Als eine Welle unser Segelschiff erfasst, stürzt unser 2. Steuermann schwer. Mehrere Rippen scheinen gebrochen zu sein, es kommt zum subkutanen Emphysem. Was tun?
„Die See ist nicht dein Freund, die See ist nicht dein Feind. Die See ist einfach nur da und macht, was sie will.“ – Ein erfahrener Kapitän, irgendwo auf dem Nordatlantik.
Weiter geht es mit dem Erfahrungsbericht aus 5.000 Seemeilen als Mediziner an Bord von Segelschiffen auf der Strecke zwischen den Azoren und Europa. Nach Teil 1 und 2 kommt jetzt mein dritter und letzter Logbuch-Eintrag.
Wie dem aufmerksamen Leser aufgefallen ist, habe ich nun mehrere Tage in meinen Logbucheinträgen übersprungen. Nach sehnsüchtiger Erwartung liegt es nun endlich vor mir, das riesige Segelschiff für die Rückreise nach Europa, im abgeschotteten Teil vom Hafen. 37 Mann und Frau Besatzung werden für mich eine ungewohnt große Verantwortung darstellen. Immerhin hat ein Schiff dieser Größe eine entsprechend gut bestückte Bordapotheke im eigenen Lazarett-Raum mit allem, was das Herz begehrt (naja, fast, wie sich später herausstellen wird). Was ich nicht wusste: Es ist zufällig noch ein junges Ärztepaar mit an Bord. Sie kennen auch das Schiff gut, also werde ich schon nix zu tun haben. Denke ich mir.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie eine große Welle das Schiff erfasst und der 2. Steuermann Herbert „Haltet-euch-immer-gut-fest“ Holzmüller direkt neben mir von der Brücke strauchelnd mehrere Treppenstufen überspringt, um nach 3 Metern mit dem Thorax auf der Reling zu landen und danach mit dem Kopf aufzuknallen.
Was ich hätte tun sollen: Präklinisches Traumaschema abspulen, wie ich’s im PHTLS gelernt und auf der Straße praktiziert habe.
Was ich in dieser neuen Umgebung „Schiff“ und ohne leucht-rote Hose an den Beinen gemacht habe: Vor den japsenden Herbert hingekniet und dreimal gefragt „Jo, alles gut bei dir?“, bis auch der letzte Schulsanitäter verstanden hätte, dass Herbert gerade absolut keine Luft bekommt.
Also haben wir den etwas benommenen Herbert zu zweit stabilisiert, vorsichtig hingelegt und das Primary Assessment abgespult, wobei die See regelmäßig Wasser übers Deck spülte und mein Gehirn mir schadenfroh ein neues „S“ in mein „Scene, Safety, Situation, See“ dichtete. Hierbei durfte ich erster Hand und zu meinem Erstaunen feststellen, dass meine ultracoole wasserdichte Segelkleidung unten an den Hosenbeinen offen war, wodurch im Knien das Salzwasser bis auf Oberschenkelhöhe gedrückt werden konnte. Einfach herrlich, die Kraft der Natur!
Ultracoole wasserdichte Segelkleidung, unten offen, Symbolbild (anderes Schiff).
Also, zurück zu Herbert:
Das subkutane Emphysem über dem linken Thorax verrät mir nun zwei Dinge, nachdem Herbert mir versicherte, dass es nicht schon vorher da war:
Das subkutane Emphysem ist übrigens der spezifischste Befund für einen Pneu in der körperlichen Untersuchung. Nebenbei bemerkt: Mein Drang, jedem potenziell kritischen Traumapatienten 15 Liter Sauerstoff auf die Nase zu drücken, wurde recht schnell von der Erinnerung unterdrückt, dass es auf dem ganzen Schiff nur eine 2-Liter-Flasche dieser Spezialluft gibt, was uns eine knappe halbe Stunde lang geholfen hätte.
Nach kurzer Zeit stabilisiert sich der Zustand aber und es werden die ersten Pläne geschmiedet. Auf die Erstversorgung des Patienten folgt ein Gespräch mit der Schiffsführung, in dem sich auf eine Kursänderung zum nächstgelegenen Hafen geeinigt wird, der 2–3 Tage entfernt liegt. Da wir fernab jeglicher Helikopterreichweiten sind, gibt es als Notfallplan nur die Möglichkeit, eine Marinefregatte in der Nähe um Hilfe zu bitten und sonst ein Rettungsboot vom Festland anzufordern.
Funkplatz an Bord, von wo aus wir in ständigem Kontakt mit Festlandstationen sind.
Bei fehlendem Thoraxdrainageset ist das wohl beste verfügbare Rohr für eine Thoraxdrainagenanlage der orange Absaugkatheter aus dem Rucksack, der meinen Schätzungen nach aber beim ersten kleinen Blutkoagel aufgeben wird. Einen Endotrachealtubus gibt’s leider nicht an Bord und so schaue ich kurz den roten Larynxtubus skeptisch an, der guckt entsetzt zurück, also verwerfe ich die Idee dann schnell wieder. Im Endeffekt habe ich mich auf den Absaugkatheter geeinigt.
Fun Fact: Der mittlere Abstand zwischen Rippen beträgt beim Erwachsenen ca. 9 mm, wobei schon 28 Fr Thoraxdrainagen dicker sind und somit – jedenfalls theoretisch – das neurovaskuläre Bündel entlang der Rippen komprimieren und starke Schmerzen verursachen können. Bei deutlich limitierten Möglichkeiten zur Analgesie und mehreren Tagen bis zu definitiver Versorgung würde ich also auf dem Schiff eher den kleinen Schlauch nehmen (ggf. nach anterior statt posterior legen war auch noch ein Gedanke in meinem Kopf, aber ohne jeglichen Evidenzhintergrund).
Fun Fact 2: Auch die aktuellste Evidenz tendiert in Richtung kleiner statt größer, heißt konkret 20 Fr oder 14 Fr Pigtail. Mit dem orangen Absaugkatheter (16 Fr) liegt man gut dazwischen. Was nun bei größerem Hämatothoraxanteil? In einer randomisierten kontrollierten Studie wurde auch für traumatischen Hämatothorax gezeigt, dass zwischen 14 Fr Pigtail und 28–32 Fr Schläuchen die Versagensrate ähnlich ist. Hätte ich ehrlich gesagt nicht gedacht. Cave: Evidenz gilt nicht bei hämodynamischer Instabilität.
Am Abend, bevor ich ins Bett gehe, spiele ich noch einmal im Kopf durch, wie eine Thoraxdrainagenanlage im Notfall hier auf dem Schiff wohl am besten vonstattengehen würde. Vor allem: Wo hat man hier um Himmels willen ein bisschen Platz? Meine Lösung ist der Boden des oberen Flurs am Abgang zur Treppe runter in die Messe, damit ich mit Kopflampe auf den Treppenstufen hocken kann und der Thorax auf Arbeitshöhe ist. Dabei bin ich sehr froh über meine gesammelten Erfahrungen aus ein paar Monaten Johannesburger Notaufnahme, sodass ich das Gefühl habe, einer entsprechenden Situation auch hier auf dem Nordatlantik gut begegnen zu können. Natürlich möchte ich es aber vermeiden, wenn irgendwie möglich, in der Umgebung dieses Schiffes mit unzureichendem Material und ggf. mehreren Tagen bis zu definitiver Versorgung eine derartige chirurgische Intervention durchzuführen.
In der Nacht träume ich schließlich eine wilde Mischung aus stockdunklem Johannesburger Schockraum (Stromausfall), der sich nun schwankend auf unserem Schiff befindet, Herbert mit Spannungspneu und wie ich mir während der Fingerthorakostomie den Finger an einer der gebrochenen Rippen aufreiße. Ich wache dadurch auf und merke, dass ich gerade kurz davor bin, aus meiner oberen Koje (Stockbetten) zu fallen. Nochmal gut gegangen. Doch es soll kommen wie so oft in der Medizin: Wenn man sich im Vorhinein Gedanken macht und einen Plan schmiedet zu einer schwierigen Situation, dann tritt diese nicht ein.
Im weiteren Verlauf lassen sich die Schmerzen gut mit NSAR einstellen. Leider gibt es für Schmerzspitzen keine oralen Opiatmedikamente in der Bordapotheke und es bleibt nur die Gabe von s. c. Morphin. Da der Patient schon 70 Jahre alt ist, entscheiden wir uns auch für regelmäßiges Atemtraining bzw. Physiotherapie, die ich bewusst schonend durchführe, um nicht noch mehr Luft in den Pleuraspalt zu ziehen (Evidenzgrad dieser Taktik: 0,0). Regelmäßige Vitalparameterkontrollen und „Visiten“ ergeben keinen Grund zur Sorge. Im Endeffekt kommen wir bereits nach 1,5 Tagen am Festland an und es geht ab ins Krankenhaus. Froh, wieder Land unter den Füßen zu haben, telefoniere ich mit Freunden in der Karibik, wonach ich jetzt weiß, warum Kondome und die Pille danach in jede größere Bordapotheke gehören sollten. Doch zu dieser Geschichte kommen wir ein anderes Mal.
Dinge, die ich nach 5.000 Seemeilen für mich mitnehme:
P. S. Herbert ist per Reiserückholtransport inzwischen wieder in Deutschland angekommen und befindet sich auf dem Wege der Besserung.
Bildquelle: Jeremy Bishop, unsplash