Dr. Johannes Strobel, Notarzt aus Hamburg, hat sechs Monate lang in London Traumapatienten versorgt. Sein Vergleich mit Deutschland zeigt: Es ist höchste Zeit, dass wir besser werden – und die Rolle von Ärzten und Notfallsanitätern überdenken.
Etwa alle 1,5 bis zwei Jahre schreibt London HEMS (Helicopter Emergency Medical Service) Stellen für Notärzte aus; Bewerber aus der ganzen Welt sind willkommen. Diese sogenannten Fellows bleiben ein halbes Jahr vor Ort. „London HEMS ist einer der weltweit bekanntesten Rettungsdienst-Organisationen weltweit speziell bei der Versorgung von Trauma-Patienten“, sagt Dr. Johannes Strobel im DocCheck-Interview. „Es gibt kein vergleichbares System hinsichtlich der Organisation und der Patienten.“ Was hat er vor Ort erlebt?
Zum Hintergrund: Das englische und das deutsche Rettungssystem unterscheiden sich grundlegend voneinander. „In Großbritannien gibt es das Paramedic-System, sprich Notärzte sind per se nicht vorgesehen“, erzählt Strobel. „Jeder Notarzt, der auf der Straße oder in der Luft unterwegs ist, wird vom National Health Service eigentlich nicht dafür bezahlt.“ Heißt: Eine Non-Profit-Organisation wie London HEMS übernimmt die Kosten; formal sind die Ärzte aber beim NHS angestellt.
Strobel: „Das NHS-System ist unfassbar schlecht. Präklinisch sterben Menschen, die in Deutschland wohl überlebt hätten.“ Grund dafür sei ein unterfinanziertes System, Personal und Rettungsmittel fehlten. Weder die Kollegen noch deren Equipment seien jedoch schlechter als in Deutschland. Als Reaktion darauf hätten Organisationen Mechanismen entwickelt, um Lücken zu schließen, etwa London HEMS.
Eine besondere Rolle in Großbritannien haben Paramedics. „Sie sind anders ausgebildet als Kollegen im deutschen Rettungsdienst“, berichtet Strobel. Zwar gebe es Ähnlichkeiten zum Notfallsanitäter. „Darüber hinaus kennt das britische System aber eine Reihe von Spezialisierungen – das gibt es bei uns in der Theorie nur extrem eingeschränkt und im Einsatz praktisch nicht.“ Als Ausnahme in Deutschland nennt Strobel den Gemeinde-Notfallsanitäter, ein Pilotprojekt zur ambulanten Betreuung von Patienten.
Spezialisierungen in UK können technischer Natur sein. Kollegen lernen, wie sie in besonderen Situationen, etwa nach Naturkatastrophen oder Terroranschlägen, handeln. Andere Spezialisierungen betreffen Tätigkeiten in verschiedenen First-Responder-Einheiten, beispielsweise als Solo Responder, also als Person, die alleine per Auto, Motorrad oder Fahrrad unterwegs ist. Auch in Richtung Leitungsfunktion können sich Paramedics im britischen System weiterentwickeln, um eigene Teams klinisch zu führen.
„Die aus meiner Sicht höchste Spezialisierung sind jedoch Advanced Paramedic Practitioners (APP)“, wie Strobel berichtet. „Sie sind anders ausgebildet als Notärzte in Deutschland, bedienen aber ein ähnliches Einsatzspektrum und führen die gleichen Dinge durch, also invasive Maßnahmen wie Thoraxdrainage, Intubation, Lyse, usw.“ APP absolvieren zusätzlich noch ein Masterstudium. „Sie sind durch die Fülle an hochkarätigen Einsätzen besser als der durchschnittliche Notarzt in Deutschland, um das klar zu sagen“, so Strobel.
Diese Besonderheiten spiegeln sich auch beim Hubschrauber-Team von London HEMS wider. Paramedics und Notärzte sind darauf spezialisiert, Trauma-Patienten im Londoner Stadtgebiet zu versorgen – mit Erfolg. „Ich persönlich habe mindestens zwei Patienten behandelt, bei denen ich dachte, sie hätten in Deutschland nicht überlebt“, erzählt Strobel. Ähnliche Berichte hätte es aus dem Kollegenkreis gegeben. Die Teams transfundieren präklinisch Blut oder führen invasive Maßnahmen wie Thorakotomien oder REBOA (ein temporärer künstlicher Verschluss der Aorta per Ballon) durch. Solche Verfahren werden in Deutschland nicht flächendeckend eingesetzt – oder werden gar kontrovers diskutiert. Bei London HEMS trainieren Kollegen dafür, um die Interventionen durchzuführen.
Um zu entscheiden, wann der Einsatz der Trauma-Experten überhaupt sinnvoll ist, sitzt ein Paramedic des HEMS-Teams in der Rettungsleitstelle. Er scannt jeden eingehenden Notruf. „Aufgrund seiner fachlichen Expertise kann er extrem genau disponieren“, weiß Strobel. Paramedics, die im Hubschrauber-Team arbeiten, verbringen 50 Prozent ihrer Zeit in der Leitstelle.
Das Team rückt nicht nur per Hubschrauber aus. Während des Tages, beim Londoner Berufsverkehr, gibt es per Auto kein Durchkommen. Doch als Herausforderung bleibt, geeignete Landeplätze zu finden. In der Nacht gelangen Paramedics und Notärzte per Auto rascher zum Einsatzort. Am Tag liegt die durchschnittliche Zeit bis zum Patienten per Helikopter bei 14 Minuten, in der Nacht per Auto sind es 16 Minuten.
Strobel ist wieder zurück in Deutschland – und hat aus London mehrere Verbesserungsvorschläge mitgebracht. „Wir sollten uns Strategien, die Kollegen in UK entwickelt haben, auch hier zu eigen machen“, sagt der Notarzt. „Mit Problemen, die wir in den nächsten Jahren bekommen werden, hat London bzw. UK schon seit Jahren zu kämpfen.“
Das beginnt bei den Berufsbildern selbst. „Notfallsanitäter sollten sich weiterentwickeln, sich spezialisieren können, in welche Richtung auch immer“, fordert Strobel. Dies sei eben auch eine Möglichkeit, Berufe attraktiver zu machen. „Notfallsanitäter sind gut ausgebildet, sie sollen aber auch das tun, was sie gelernt haben.“ Es könne nicht sein, dass alle außer dem Notarzt quasi nur Spritzen aufzögen. „London ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich unterschiedliche Professionen gut ergänzen.“
Auch im ärztlichen Bereich ist einiges zu tun. „Viele Ärzte sehen Notarzt-Tätigkeiten übertrieben gesagt als ‚Hobby‘“, sagt Strobel. „Der eigentliche Job ist in der Klinik, etwa in der Notaufnahme, in der Anästhesiologie oder auf einer Intensivstation.“ Nebenbei gebe es ein paar Rettungsdienste pro Monat; kaum ein Arzt würde das anders machen. Wer Notarzt-Einsätze fahren will, braucht für den Notarztschein eine 24-monatige Weiterbildung, absolviert einen Kurs und nimmt an 50 Einsätzen unter Anleitung eines Notarztes teil. „Ärzte können unterwegs sein, ohne jemals einen Traumapatienten versorgt oder ein Kind reanimiert zu haben“, lautet Strobels Kritikpunkt.
Er fordert: „Die Notarzt-Ausbildung muss sich professionalisieren, die Qualifikation vor der Facharztreife würde ich überdenken und Fortbildung und Training sind weitere Knackpunkte.“ Dies dürfe nicht allein den Kliniken überlassen werden. „Das muss im Team, im Rettungsdienst geschehen, so wie das auch die entsprechenden Fachgesellschaften fordern.“
Doch damit nicht genug: London HEMS hat zum Qualitätsmanagement ein eigenes Prozedere entwickelt. Jeder Fall wird retrospektiv von einem unabhängigen Teammitglied angesehen, das am Einsatz nicht beteiligt war. Es geht vorrangig um medizinische Aspekte, aber auch um die Frage, ob es richtig war, das Hubschrauber-Team anzufordern und ob die Zeit bis zum Einsatzort im Rahmen des Üblichen bewegte.
Bei Auffälligkeiten besprechen Kollegen aller Fachbereiche – Ärzte und Paramedics – den Fall in regelmäßigen Konferenzen. Das seien keine Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen nach deutschem Vorbild, so Strobel, denn im Londoner Modell würden alle Fälle besprochen. „Es geht nicht darum, Schuldige zu bashen, sondern darum, voneinander zu lernen: Positives und Negatives.“ Der Mehrwert liegt auf der Hand. „Ein Großteil aller Dinge, die ich während meiner Zeit in London gelernt habe, kam aus Fallbesprechungen“, erinnert sich Strobel. „Das möchte ich in Deutschland etablieren.“
Was denkt ihr darüber? Was muss sich im deutschen Rettungswesen ändern? Schreibt es in die Kommentare!
Bildquelle: JOSHUA COLEMAN, Unsplash