Die McDonald-Kriterien erlauben eine akkurate Diagnosestellung der Multiplen Sklerose. Im klinischen Alltag wenden viele Ärzte sie aber falsch an – mit erheblichen Risiken.
Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste neuro-immunologische Erkrankung in Deutschland und anderen westlichen Ländern. Da sie besonders häufig junge Menschen betrifft, verursacht sie enorme gesundheitliche und wirtschaftliche Kosten. Zum Glück stehen effektive Therapien zur Verfügung, die eine Zunahme der krankheitsbedingten Behinderung in vielen Fällen verhindern können. Es werden enorme Summen für die Entwicklung von immer besseren Medikamenten ausgegeben und so wächst das therapeutische Arsenal Jahr um Jahr.
Voraussetzung einer guten Therapie ist eine akkurate Diagnosestellung. Bei MS werden für die Diagnose die McDonald-Kriterien verwendet. Diese Kriterien wurden erstmals 2001 vorgestellt und werden alle paar Jahre an neueste Erkenntnisse angepasst. Die letzte Revision der Kriterien erfolgte 2017. Grundlage der Kriterien ist die Erkenntnis, dass die MS eine Erkrankung ist, die in Schüben verläuft und unterschiedliche Regionen des zentralen Nervensystems betrifft. Man spricht von einer zeitlichen und räumlichen Dissemination. Um die Diagnose MS stellen zu können, müssen diese zwei Aspekte erfüllt sein. Sie müssen durch klinische, bildgebende oder andere diagnostische Befunde nachgewiesen werden. Außerdem muss noch eine für eine MS typische Symptomatik bestehen und es müssen Differentialdiagnosen ausgeschlossen sein. Erst dann kann die Diagnose MS gestellt werden.
Fehler in der Anwendung der McDonald-Kriterien können zu zwei Situation führen – beide gehen mit erheblichen Risiken für die betroffenen Patienten einher. Zum einen kann die Diagnose einer MS nicht oder erst verzögert gestellt werden, obwohl eigentlich eine MS vorliegt. Eine medikamentöse Therapie erfolgt in diesem Fall nicht oder verspätet. Man weiß aber, dass der Krankheitsverlauf am besten in einer frühen Phase mit einer immunmodulatorischen Therapie positiv beeinflusst werden kann. Wird einem Patienten eine effektive medikamentöse Therapie vorenthalten, kann dies zu einer zunehmenden körperlichen Behinderung und großem Leid führen, welches eigentlich verhindert hätte werden können.
Zum anderen kann bei fehlender Sorgfalt in der Anwendung der McDonald-Kriterien die Diagnose einer MS gestellt werden, obwohl eigentlich eine andere Erkrankung oder vielleicht nur unspezifische Symptome oder bildgebende Veränderungen bestehen. In diesem Fall wird der Patient unter Umständen einer hochaktiven immunmodulatorischen und in der Regel auch immunsupprimierenden Therapie zugeführt. Und auch wenn die Medikamente bei einer MS gut wirksam sind, haben sie wie alle Medikamente zum Teil erhebliche Nebenwirkungen. Noch dazu weiß man, dass einige MS-Medikamente bei ähnlichen Erkrankungen den Verlauf sogar negativ beeinflussen können. Dies ist bei der Neuromyelitis Optica Spektrum-Erkrankung (NMOSD) der Fall, bei der eine Beta-Interferon-Therapie zu einer erhöhten Krankheitsaktivität führen kann.
Um die genannten folgenschweren Fehler möglichst zu vermeiden, gibt es eben die stets an den aktuellsten Stand der Forschung angepassten McDonald-Kriterien. Werden sie korrekt angewandt, ist eine akkurate Diagnosestellung möglich. Aber genau hier liegt das Problem. Verschiedene Studien zeigen, dass die Kriterien von neurologischen Fachärzten inklusive MS-Spezialisten durch Wissenslücken oder Missverständnisse teilweise falsch angewandt werden. Eine Forschergruppe um Andrew Solomon von der Universität Vermont, USA, hat verschiedene Gruppen von Neurologen bei der Anwendung der Diagnosekriterien getestet. Hierbei offenbarten sich erhebliche Schwierigkeiten.
In einer ersten Studie, die 2020 im Multiple Sclerosis Journal veröffentlicht wurde, wurde das Abschneiden von Assistenzärzten in der Neurologie und MS-Spezialisten verglichen. Wenig überraschend waren die MS-Spezialisten sicherer in der Anwendung der Diagnosekriterien als die Assistenzärzte, in beiden Gruppen wurden aber viele Fehler gemacht. Ein Aspekt, der sehr häufig nicht beachtet wurde (bei 50 % der Assistenzärzte und immerhin bei 16 % der MS-Spezialisten), ist die Voraussetzung für die Anwendung der McDonald-Kriterien, dass eine für einen MS-Schub typische Symptomatik bestehen muss. Bei unspezifischen Symptomen sollten die Kriterien nicht angewandt werden, sonst kommt es zu falsch-positiven Ergebnissen. Dies war offensichtlich vielen Studienteilnehmern nicht bekannt. Ein weiterer Aspekt, der Probleme bereitete, war die genaue Kenntnis der im MRT typischerweise betroffenen Lokalisationen. Während das theoretische Wissen vorhanden war (die meisten Teilnehmer konnten die vier typischen Lokalisationen von MS-Läsionen juxtakortikal, periventrikulär, infratentoriell und spinal nennen), haperte es bei der praktischen Umsetzung. Die korrekte Identifizierung von juxtakortikalen MRT-Läsionen in Beispielbildern gelang nur 39 % der Assistenzärzte und 52 % der MS-Spezialisten. Auch bei den anderen typischen Lokalisationen gelang die korrekte Identifizierung vielen Teilnehmern nicht.
In einer zweiten Studie derselben Forschergruppe, die 2022 im selben Journal veröffentlicht wurde, wurden schließlich konkret Ärzte untersucht, die angaben, in ihrem klinischen Alltag die Diagnose MS häufig zu stellen. Somit ist diese Studie für die Qualität der MS-Diagnosestellung im klinischen Alltag vermutlich noch relevanter. Und auch bei dieser Gruppe führten dieselben Wissenslücken oder Missverständnisse häufig zu Fehlern. 43 % erkannten in einem Fallbeispiel nicht, dass es sich bei den geschilderten Symptomen nicht um eine typische Schub-Symptomatik handelte und somit die McDonald-Kriterien nicht zum Einsatz kommen dürften. Und bei den praktischen Fragen nach Lokalisationen von in MRT-Bildern abgebildeten Läsionen schnitten nur 5 % der Teilnehmer gut ab.
Ob in Deutschland ähnliche Probleme bestehen, ist bislang nicht durch Studien belegt. Man kann aber davon ausgehen, dass auch bei Neurologen hierzulande zumindest zum Teil ähnliche Missverständnisse bestehen. Dies unterstreicht die Wichtigkeit, die Lehre im Medizinstudium, in der Facharztausbildung und in der weiteren berufsbegleitenden Fortbildung zu verbessern. Denn auch wenn sicher in der überwiegenden Zahl der Fälle die Diagnosestellung einer MS sorgfältig und akkurat verläuft, gibt es doch immer Spielraum für Verbesserung – und der kann genutzt werden.
Bildquelle: Pawel Janiak, Unsplash