„Was gut ist, kommt wieder“– was schlecht ist, aber offensichtlich auch. Deutschland ist wieder Jodmangelgebiet. Warum tun wir uns mit der Versorgung so schwer?
Deutschland ist wieder Jodmangelland – Tendenz steigend. Nicht nur die Häufigkeiten vergrößerter Schilddrüsen sowie kalter und heißer Knoten nehmen zu. Auch die Inzidenz bösartiger Schilddrüsenknoten, insbesondere bei Frauen unter 40 Jahren, steigt an. Das sind Entwicklungen, die auch auf der Pressekonferenz des Berufsverbandes Deutscher Nuklearmediziner im April 2023 diskutiert wurden.
Wenngleich kein monokausaler Zusammenhang zwischen Jod-Unterversorgung und der Entartung von Schilddrüsenknoten nachweisbar und die Inzidenz mit etwa 1,1 Prozent insgesamt niedrig ist, stellt sich schon die Frage, warum im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ein bereits überwunden geglaubter Mikronährstoffmangel und mit ihm die Häufigkeit von Thyroidea-abhängigen Pathogenesen wieder Fahrt aufnimmt. Nach Expertenschätzung liegt die aktuelle Prävalenz für eine Jod-Versorgung, die nicht einmal die Minimalempfehlung von 100 µg/Tag erreicht, in Deutschland bei über 30 Prozent.
Wie ist das möglich? Jodsalz gibt’s in jedem Supermarkt für einen Kilogrammpreis von rund 60 Cent – nur vier Cent teurer als nicht jodiertes Salz. Auf der anderen Seite ist der durchschnittliche Salzkonsum in Deutschland so hoch, dass vor den kardiovaskulären Folgen gewarnt wird. Das Jodmangelproblem ist nun wahrlich kein neues.
„Die scheußlichen Kröpfe haben mich ganz und gar üblen Humors gemacht.“ Wer diese heute sicher befremdlich klingende Zeile nach einer Reise ins Schweizer Wallis im Jahr 1779 schrieb, war jener Geheimrat und Dichterfürst aus Weimar („Briefe aus der Schweiz, 1779, Johann W. von Goethe“). Wer heute reiferen Alters ist, wird sich vermutlich aus eigenem Urlaubserleben daran erinnern, dass noch 200 Jahre nach Goethes Beobachtung im Alpenraum Strumae omnipräsent waren. Erstaunen muss daran, dass die Vermutung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Jodmangel, Kropfbildung als sichtbarem Zeichen einer Schilddrüsenhyperplasie und diversen somatischen Entwicklungsstörungen, neurologischen Schäden und kognitiven Einbußen (Kretinismus) – bereits wenige Jahre nach der Entdeckung von Jod durch Bernard Courtois (1777–1838) im Jahr 1811 geäußert wurde.
Als entscheidender Avantgardist in Sachen Jod-Gabe gegen Kropfbildung und anhängige Pathogenesen darf Jean-François Coindet (1774–1834), Arzt in Genf, angesehen werden. Mit seiner Beobachtung, dass verabreichtes Jod hyperplastische Schilddrüsen abschwellen lässt und mit seiner Empfehlung, Jod als Anti-Kropf-Therapeutikum zu verordnen, drang er jedoch im Kollegenkreis nicht durch, wenngleich mit der Jodierung von Salz – ein Vorschlag des Chemikers Jean Baptiste Boussingault (1802–1887) – sogleich eine unkomplizierte Methodik geliefert wurde.
Dass ein Mangel eines einzelnen Elements so weitreichende pathologische Folgen haben sollte, passte nicht ins damalige medizinische Weltbild. Courtois selbst glaubte auch nicht so recht daran, sondern hielt Jod lediglich für ein wirksames Medikament. Somit sollte es rund ein Jahrhundert dauern, bis die Jodmangeltheorie der Kropfbildung samt anhängender Folgen den erforderlichen wissenschaftlichen Unterbau erhielt.
Den Wendepunkt leitete die Isolierung des Schilddrüsenhormons Thyroxin (heute T4) mit Nachweis seines Jodgehaltes durch den US-Biochemiker Edward Calvin Kendall (1886–1972) ein. Trijodthyronin T3 wurde rund 40 Jahre später unabhängig voneinander in London und Paris entdeckt. Die Einsicht in die Bedeutung der Hormonfunktion und damit einer ausreichenden Versorgung mit dem heute als essenzielles Spurenelement definierten Jod, rief drei unabhängig voneinander forschende Schweizer Medizinier – keine hoch dekorierten Professores, sondern landärztlich tätige Praktiker – in jenen Alpenregionen auf den Plan, die wegen besonders jodarmer Böden wie keine anderen von den Unterversorgungsfolgen betroffen waren.
Heinrich Hunziker (1879–1982), Dorfarzt im Kanton Zürich, konnte die Kropfbildung als Adaptation an eine jodarme Ernährung demonstrieren und empfahl die therapeutische Jod-Gabe in niedriger Dosierung (1914). Die Idee sowie die praktische Umsetzung einer Jodmangelprophylaxe durch Salz-Jodierung dürfen dem am Fuße des Matterhorns praktizierenden Otto Bayard (1881–1957) zugeschrieben werden. In seiner ersten klinischen Studie an extrem von Jodmangel und konsekutiver Kropfbildung betroffenen Bewohnern eines abgelegenen Bergdorfes zeigte der Einsatz von jodiertem Speisesalz durchschlagenden Erfolg, der sich in zwei weiteren Gemeinden bestätigte.
Das überzeugte schließlich auch die staatliche Gesundheitsbehörde. Der Frage, wie das Jodsalz am besten unters Volk zu bringen sei, nahm sich der dritte bürgernahe Doc, der Appenzeller Chirurg Hans Eggenberger (1881–1946), an. Die von ihm initiierte Jodsalz-Kampagne mündete in mehrheitlicher Zustimmung bei einer ja bis heute für die Eidgenossen typischen Volksabstimmung.
In den benachbarten alpinen Jodmangelländern dauerte es deutlich länger bis zur flächendeckenden Jodsalz-Einführung. Österreich folgte 1963, Deutschland erst 1981. Aber auch hier zeichnete der Einsatz von jodiertem Speisesalz in der industriellen Lebensmittelverarbeitung sowie in der privaten Speisenzubereitung Erfolg. Die Jodversorgung der in Deutschland lebenden Menschen verbesserte sich, woran auch der Jodzusatz zu Futtermitteln in der Viehzucht mit der Folge höheren Jodgehalte in Milchprodukten beitrug. 2007 strich die WHO Deutschland von der Liste der Jodmangelkandidaten und das Problem schien auf lange Sicht ausgerottete – ein Trugschluss, wie wir uns heute eingestehen müssen.
Die aktuelle Jodsituation ist wenig rühmlich. 2020 hat die WHO Deutschland erneut als Jodmangelgebiet eingestuft – Tendenz steigend. Darauf verwies auch der Berufsverbandes Deutscher Nuklearmediziner (BDN) im April 2023. Demnach sind Schilddrüsenknoten in Deutschland wieder weit verbreitet. Die Knoten seien zwar insgesamt nur sehr selten bösartig, doch trete Krebs zunehmend häufiger bei jüngeren Frauen unter 40 Jahren auf, referierte Dr. Stefan Karger, Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie in Leipzig.
Trotz des derzeit vergleichsweise geringen Gesamtrisikos für eine maligne Knotenentartung von 1,1 Prozent, scheint ein Trend zu steigenden Schilddrüsenkrebszahlen bei U40-Frauen in den Industrienationen unverkennbar, wie eine Longitudinalstudie offenlegt. Einschränkend müssen allerdings die deutlich verbesserten Diagnoseverfahren berücksichtigt werden.
90 Prozent der Schilddrüsen-Hyperplasien sind Folge ernährungsbedingten Jodmangels, der allerdings nicht als monokausales Schilddrüsen-Carcinogen angesehen werden kann. Doch ein möglicher ursächlicher Einfluss an der steigenden Entartungsrate von Schilddrüsenknoten darf auch ohne sichere Evidenz nicht aus dem Auge verloren werden, zumal die Jodmangelprävention so einfach wäre und in der richtig dosierten Verwendung jodierten Speisesalzes liegt. Aber wie bringt man die Einsicht unters Volk?
Waren in den Alpenländern des 20. Jahrhunderts vor allem jodarme Böden mit der Folge niedrigen Jodgehalte in der weitestgehend naturbelassenen Nahrung für Jodmangellage ausschlaggebend, so ist die heute sicher weniger drastische Situation auf Bequemlichkeit, ideologische Motive oder auf Fehlinformationen hinsichtlich der gewählten Ernährungsphilosophie zurückzuführen.
Das reichhaltige Angebot an natürlichen Jodlieferanten – allen voran Milchprodukte, Fisch sowie anderes Meeresgetier – und nicht zuletzt die Einführung von jodiertem Speisesalz sollten doch eine ausreichende Jodversorgung in den Industrienationen allemal sicherstellen. Wo hakt es da und warum sind gerade jüngere Frauen vermehrt von einer Unterversorgung betroffen? Da lohnt der Blick auf modernes Ernährungsverhalten. Der seit einigen Jahren nicht abebbende Tsunami immer neuer Ernährungstrends, deren verbindendes Merkmal ein restriktiver (Low-/No-)Charakter ist, erschwert zwar die Stratifizierung im Hinblick auf die Jodmangelwahrscheinlichkeit, doch lassen sich grob drei Risikogruppen ausmachen:
Die schnelllebige Zeit – jeder ist gestresst – und ein breites Angebot an Fertigprodukten aller Couleur haben das Ernährungsverhalten breiter Bevölkerungsteile nachhaltig verändert. Der Status quo lässt sich mit einem Verlust der Mitte umschreiben. Auf der einen Seite ist die eigenständige Speisenzubereitung aus weitgehend unverarbeiteten Lebensmitteln – das Kochen daheim – „aus der Mode“ gekommen. Die ubiquitäre Verfügbarkeit von Fastfood sowie die kinderleichte Zubereitung von Convenience-Produkten in der Mikrowelle haben dazu geführt, dass kaum noch jemand nachvollziehen kann, was er sich neben einer Unzahl von Geschmacksverstärkern, Konservierungs- und sonstigen Zusatzstoffen im Laufe eines Tages einverleibt.
Auf der anderen Seite stehen jene, die wirklich alles richtig machen wollen. Sie wollen jedes Lebensmittel, das irgendwann einmal negativ konnotiert wurde, vom Speiseplan streichen und nur auf eigene Zubereitung besonders selektierter Nahrung setzen. In Bezug auf die progrediente Jod-Unterversorgung sind beide Tendenzen – Convenience-Boom und Strikt-Restriktion – von Belang.
Die Kombination aus überernährt und mangelversorgt ist gerade in Hinblick auf essenzielle Mikronährstoffe keine Seltenheit. Beim Jod wird das besonders offenkundig. Zwar ist mittlerweile auch dank der nicht eben seltenen Hinweise von Gesundheitsminister Karl Lauterbach wohl in jedes Ohr gedrungen, dass Fertigprodukte oft maßlos übersalzen und demzufolge ihr häufiger Verzehr mit erheblichen kardiovaskulären Risiken eihergeht. Aber wie sollte das im Zeitalter von jodiertem Speisesalz mit der zunehmenden Jodunterversorgung in Verbindung stehen?
Wer seine Einkäufe noch selbst tätigt, weiß, dass jodiertes Speisesalz wenige Cent teurer ist als die nicht jodierte Variante. Bei En-gros-Bestellungen dürfte die Preisdifferenz noch geringer ausfallen. Doch die Convenience-Produzenten denken da anders, rechnen in großen Zahlen getreu dem Motto „Kleinvieh macht auch Mist“, besonders, wenn viele Viecher vorhanden sind. Millionenfachverkäufe lassen aus der Zehntelcent-Einsparung im Einkauf eine erträgliche Steigerung der Marge erwachsen. Dahinter muss die Jodversorgung der Konsumenten halt zurückstehen, die ihrerseits meist gar nicht wissen, was dem opulenten Mahl von der Fertigtheke fehlt. Der pikante Geschmack lässt keine Wünsche offen.
Am anderen Ende der Skala stehen jene, deren Anspruch auf hochwertigste Nahrung mit möglichst 100-prozentiger Schadstofffreiheit fast fanatische Züge annimmt. Die Zunahme orthorektischen Verhaltens scheint da unverkennbar. Nichts, was nicht den strengen Vorgaben dieser von Angst oder Idealismus getriebenen Mitmenschen entspricht, passiert ihre Speiseröhre. Neben vielem anderem fällt dann entweder auch der Jodzusatz zum Speisesalz durch das strenge, selbst auferlegte Raster oder aber schnödes jodiertes Speisesalz vom regionalen Anbieter wird den eigenen Qualitätsansprüchen nicht gerecht.
Für die eigene Speisenbereitung muss dann edles Salz aus dem Himalaya oder anderen fernöstlichen Regionen die lange Reise in den heimischen Kochtopf antreten. Abgesehen vom unteririschen Klimaabdruck, der hier offensichtlich ausgeblendet wird, ist das Problem der noblen Natriumchlorid-Varianten ihr nicht vorhandener Jodgehalt.
Natürliche Jodlieferanten aus dem Meer, wie Schellfisch, Kabeljau oder Seelachs, werden aus tierethischen Gründen oder befürchteten Schadstoffbelastungen ausgeschlossen. Milchprodukte fallen der veganen Ernährungsphilosophie oder einer Laktoseintoleranz (echt oder „nocebiert“) zum Opfer – wohl im Unwissen, dass viele Milchprodukte (Käse, Joghurt, Quark) praktisch laktosefrei sind. Wer dann überhaupt noch Milchprodukte zu sich nimmt, wählt jene mit Bio-Siegel. Grundsätzlich ja nicht schlecht, wenn nicht die Bio-Rinder mit unjodiertem Futter genährt würden. Damit liegen Bio-Milchprodukte als Jodlieferanten deutlich hinter den konventionellen zurück.
Die über die Medien verbreiteten, durchaus berechtigten Informationen zu den Gefahren überbordenden Salzkonsums im Hinblick auf Bluthochdruck und Herz-Kreislaufgesundheit treffen wie so oft auf jene Ohren, die eigentlich vieles richtig machen, aber nun verängstigt werden. Die iterativ vorgetragenen Mahnungen unseres aktuellen Gesundheitsministers, belustigende Netzvideos mit seinen Appellen an den Kellner, sein Essen von jedem Salzkorn freizuhalten, zeigen Wirkung. Viele der Wenigen, die wirklich noch daheim mit frischen Lebensmitteln kochen und keinerlei Aversionen gegen das Jod im Speisesalz haben, getrauen sich nicht mehr, ihre Speisen überhaupt noch zu salzen.
Um Missverständnissen vorzubeugen, soll Herrn Lauterbach natürlich nicht die Schuld an der Jodmangel-Problematik zugeschoben werden. Aber ein kleiner Sinneswandel und berichtigende Aufklärung wäre wünschenswert. Denn trotz der vielen unsäglichen Anfeindungen hat sein Wort Gewicht.
Die wie Pilze aus dem Boden geschossenen restriktive Ernährungstrends haben so einige vergessen geglaubte Mangelzustände wieder aufleben lassen. Während etwa bei Eisen und Zink, die aus pflanzlichen Quellen schlecht aufgenommen werden können, das Bewusstsein vegan Lebender gestiegen ist, bleibt zu hoffen, dass auch beim Jod rechtzeitig zielführende Aufklärung erfolgt und das Pendel via überdosierten Nahrungsergänzungsmitteln dann nicht in die andere Richtung ausschlägt, was nicht minder pathogen als ein Mangel ist. Ärgerlich das Ganze – es wäre doch so einfach.
Quellen:
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