Kampf den chronischen muskuloskelettalen Schmerzen! Individuelle Sportangebote reichen nicht – ihr müsst schon auch mit euren Patienten reden.
Ob verkalkte Schulter, ein knackendes Kreuz oder steife Knie – chronische muskuloskelettale Schmerzen (CMS) gehören zu den Top Ten der Volkskrankheiten. Jeder kommt mal dran, jeder kann mitreden. Doch nicht für alle sind die Leiden auch eine chronische Einschränkung ihrer Gesundheit. Chronisch beeinträchtigt sind „nur“ rund 20–33 % der weltweiten Bevölkerung, im deutschsprachigen Raum rund 25 Millionen Menschen. Was also tun?
Bewegung hilft. Nicht nur bei chronischen Schmerzen, auch bei akuten Leiden. Außerdem ist sie Mittel der Wahl in Sachen Prävention. Bereits kurze, aber regelmäßige Bewegungseinheiten können bei CMS Linderung verschaffen und sollten als Minimalkonsens an Patienten vermittelt werden. Dass je nach Diagnose mehr Sport – bis über die Schmerzgrenze hinaus – auch mehr Schmerzlinderung bedeutet, klingt erst einmal nach einem brachialen Ansatz.
Doch Schmerzforscher sind sicher, dass das Trainieren über die Schmerzgrenze analgesierender für CMS-Patienten wirkt als Übungen im schmerzfreien Bereich. „Ein Training, dessen Intensität die Schmerzgrenze überschreitet, steigert Herzfrequenz und Blutdruck und führt über die arterielle Aktivierung von Barorezeptoren zur erhöhten Freisetzung von Beta-Endorphinen aus Hypophyse und Hypothalamus und aktiviert so das endogene Opioid-System. Der Hypothalamus kann durch die periaquäduktale graue Substanz das deszendierende nozisensorische, inhibitorische System anregen und so zum endogenen, analgetischen Effekt beitragen“, so die Studienautoren.
Ja, Ärzte: Ihr dürft eure Patienten also auch mal quälen. Doch es gehört natürlich noch wesentlich mehr zu einem ganzheitlichen Therapiemodell als die Anleitung zur schmerzenden Selbsthilfe.
Denn damit das Ganze von Erfolg gekrönt ist, bedarf es insbesondere einer engen Betreuung, bei der auch auf die Angst vor Bewegungsschmerzen eingegangen und Patienten durch Aufklärung Sicherheit in der Ausübung vermittelt wird. Insbesondere in der akuten Schmerzphase werde die Bedeutung ärztlicher Kommunikation weiterhin häufig unterschätzt.
Zum anderen muss es darum gehen, biopsychosoziale Effekte aufzugreifen und anzugehen; heißt: interdisziplinär zusammenzuarbeiten, bei den physischen und psychologischen Grundlagen zu helfen und gleichzeitig Arbeitsplatz und soziales Umfeld zu optimieren – sofern hier Probleme erkannt werden. Hierzu hilft laut Autoren eine Kategorisierung in Alarmzeichen für eine Chronifizierung von Schmerzen nach englischem Vorbild.
Faktoren, die einen Einfluss auf Schmerzen haben können. Credit: Dominic Müller, Inselspital Bern.
Nur so könne es auch der schweißtreibende Sport in das intrinsische Repertoire der Patienten schaffen und Langzeiteffekte bringen.
In ihrer Studie bringen die Autoren zudem den Nocebo-Effekt für Erfolg oder Misserfolg von Bewegungstherapien ins Spiel: „Bei einer Sensitivierung kommt es zu einer Entkoppelung der Schmerzwahrnehmung vom eigentlichen Stimulus, welche den Umgang mit Schmerzen (z. B. Hyperalgesie, Allodynie) beeinflusst. Im Gegensatz zur positiven Wirkung beim Placebo-Effekt führt die Erwartung einer negativen Folge zu tatsächlichen Symptomen (Nocebo-Effekt), ohne dass ein Zusammenhang zwischen Agens und Beschwerden besteht. Nocebo-Reaktionen können durch unbeabsichtigte negative Suggestionen seitens der Ärztinnen und Ärzte und des Pflegepersonals ausgelöst werden.“
Die Erwartung von Patienten gegenüber ärztlichem Handeln ist häufig geprägt von einer Warenhausmentalität – „man geht rein, kauft sich gesund, geht repariert und beherzt wieder hinaus“. Dass dieses Denken in den vergangenen Jahren zunahm und das auch weiterhin tut, mag an unserer angebotsorientierten Dienstleistungsgesellschaft, an einer allgemein steigenden Hypochondrie oder einer teils von ärztlicher Seite mitgespielten Überversorgung liegen. In eben jenem Denken liegt jedoch auch oft das Verlangen nach bunten Pillchen begründet, die das Leiden in 20 Minuten erleichtern und den Patienten, wohlgelaunt ob des einfachen Erfolgs, in den Sessel vor den Fernseher treiben.
Und ja, pharmakologische Lösungen für eine vorübergehende Besserung gibt es viele. Intraartikuläre Injektionen von Kortikosteroiden können vor allem bei arthrosebedingten Schulter- und Knieschmerzen kurzfristige Linderung bewirken. Ebenso helfen Opioide bei einer temporären Schmerzkontrolle. Ist der Schmerz jedoch erst einmal chronifiziert, bergen diese gar Gefahren einer Verschlimmerung. „In einer randomisierten Studie hatten Patientinnen und Patienten mit chronischen muskuloskelettalen Schmerzen in der Opioid-Gruppe nach 12 Monaten sogar mehr Schmerzen und mehr Nebenwirkungen als jene in der Nicht-Opioid-Gruppe. Des Weiteren führte ein Absetzen einer Langzeit-Opioid-Behandlung oft sogar zu einer Verbesserung der Schmerzintensität, der Funktion und der Lebensqualität.“
Ein weiterer wenig untersuchter Wirkstoff im Zusammenhang mit CMS ist Cannabis. Für das synthetische Cannabinoid Nabilon fällen die Forscher jedoch kein positives Urteil: „Bei chronischen Rückenschmerzen infolge von Fibromyalgie, degenerativen Schmerzen und/oder rheumatoider Arthritis [ist Nabilon] nicht wirksamer als Placebos. Zudem ist mit Nebenwirkungen (Schläfrigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit, Euphorie, Ataxie, Kopfschmerzen) zu rechnen, sodass vorerst die Anwendung von Cannabis bei muskuloskelettalen Schmerzen nicht empfohlen ist.“
Besser ist es ohnehin, wenn eine mit Spiel implementierte, frühe Präventionsarbeit späteren Problemen vorbeugt. Dass dieser Grundstein nicht früh genug gelegt werden kann, weiß auch Dr. Jürgen Kosel, Facharzt für Orthopädie: „Ernstgemeinte Prävention muss auf vielen Ebenen ansetzen: Bereits im Vorschulalter muss der natürliche Bewegungsdrang der Kinder gefördert werden und sie müssen vielfältige Bewegungserfahrungen sammeln. In den Schulen müssen Stühle und Tische den individuellen Körpermaßen der Schüler angepasst werden können. Sportunterricht muss stattfinden, Sporthallen und Geräte müssen benutzbar sein. Wissen zu gesundheitlicher Prävention sollte sowohl im Sport- als auch im Biologieunterricht vermittelt werden.“
Es bleibt also der Antrieb zum Selbstantrieb – bei gleichzeitig ganzheitlicher Begleitung und einer passenden Sportart für eure Patienten, denn Sport ist nicht gleich Sport. So kann Krafttraining Fatigue mindern, Aqua-Training bei Schlafstörungen helfen, Ausdauersport bei Fibromyalgie Schmerzen lindern und Sportarten mit mentalen Elementen – wie Yoga – bei CWP (Chronic Widespread Pain) angeraten sein.
„Da Fibromyalgie-Patienten Schmerzen bei Bewegung haben, müssen sie vom Arzt die Freigabe erhalten, über die Bedeutung eines sportlichen Programms aufgeklärt werden und dem zustimmen. Der Beginn der körperlichen Aktivierung kann unter dosierter Schmerzmedikation erfolgen und sollte in einer Gruppe mit anderen gleichermaßen Betroffenen stattfinden. Diese können sich gegenseitig motivieren, gemeinsam Spaß haben und ihre Bewegungsdefizite abbauen. Außerdem ist in der Gruppe ein Austausch über die Krankheit und das Krankheitserleben möglich. Und es kann den Blick auf den eigenen Zustand klären, wenn man merkt, dass andere stärker betroffen sind als man selbst, diese sich aber trotzdem mit Freude in der Gruppe engagieren“, gibt Kosel Einblick in den praktischen Ablauf und weist auf die Bedeutung der Stärkung der intrinsischen Motivation hin.
Gleichzeitig bleibt aber der Appell, den Müller et al. formulieren, eine „Sowohl-als-auch-Haltung“ im Gegensatz zu einem „Entweder-oder-Dualismus“ aufzubauen. Will heißen: Die Ursache liegt nicht immer nur in Muskeln und Gelenken. Psychosoziale Faktoren müssen von Ärzten gleichermaßen erkannt – und anerkannt – werden. Die Bedeutung von Stress, Sorgen und Ängsten dürfe mit Blick auf Ätiologie, Intensität und Aufrechterhaltung der Schmerzen nicht weiter unterschätzt werden. Um dies zu gewährleisten, muss es darum gehen eine konstruktive, empathische Beziehung zu den Patienten aufzubauen. Nur so kann ein Therapieplan letztlich durch intrinsische Motivation gesteuert und durch fachliche Expertise begleitet Eigendynamik entwickeln, nachhaltig erfolgreich sein – und die Schmerzen besiegen.
Bildquelle: Samuel Girven, Unsplash