Braunbären liegen im Winterschlaf monatelang auf einem Fleck. Trotzdem entwickeln sie keine Thrombosen. Was schützt sie – und kann der Mensch das auch?
Es ist ein altbekanntes Problem: Sind Menschen länger immobilisiert, kann es zu tiefen Venenthrombosen (TVT) kommen – beispielsweise bei Patienten mit eingegipstem Bein oder auf langen Flugreisen. TVT sind wahrlich keine Seltenheit, das RKI schätzt die Inzidenz auf 1–2 Fälle pro 1.000 Personen im Jahr ein. In 10–30 % der Fälle führt das Blutgerinnsel zu einer Lungenembolie und häufig bleiben Langzeitkomplikationen in Form eines postthrombotischen Syndroms. In Risikosituationen können Antikoagulantien und Kompressionsstrümpfe bei der Prävention helfen.
Es gibt aber eine erstaunliche Ausnahme zu dieser Regel: Obwohl die Immobilisation so ein maßgeblicher Risikofaktor für TVT ist, haben Menschen, die dauerhaft gelähmt und dadurch an Bett oder Rollstuhl gebunden sind, dieses Problem paradoxerweise kaum. Wie kann das sein?
Bayerische Forscher könnten nun auf die Lösung des Rätsels gestoßen sein. Grundstein für ihre Entdeckung waren einige Forschungsexkursionen nach Skandinavien, um an die Blutproben von – für Humanmediziner – eher ungewöhnlichen Probanden zu kommen: freilebende Braunbären.
Denn die Tiere scheinen einen hervorragenden Schutz vor TVT zu haben: 4–7 Monate im Jahr verbringen sie im Winterschlaf und bewegen sich ergo nicht vom Fleck – trotzdem sind TVT die Ausnahme. Dieses Phänomen machte die Forscher natürlich neugierig. Zu ihrem Glück gibt es in Schweden ein laufendes Forschungsprojekt, in dessen Rahmen eine Braunbärenpopulation seit über 20 Jahren überwacht wird. Mithilfe von GPS-Trackern ist die Ortung der Bären jederzeit möglich und nach Sedierung war auch eine gefahrlose Entnahme von Blutproben kein Problem.
Die Proben von Bären im Winterschlaf sowie von aktiven Bären im Sommer wurden untersucht und verglichen, aber zumindest in ihrem mobilen Labor vor Ort konnten die Forscher der LMU München keine entscheidenden Unterschiede feststellen. Mit ein paar Blutproben im Gepäck zogen sie also wieder von dannen, um diese im heimischen Labor genaueren Untersuchungen zu unterziehen. Und tatsächlich, eine gründliche Massenspektrometrie-basierte Proteomik konnte die gesuchten Antworten liefern.
Wie sich herausstellte, werden bei den schlafenden Tieren 151 verschiedene Proteine hoch- oder heruntergeregelt, die mit der Plättchenaktivierung im Zusammenhang stehen. Am drastischsten war der Unterschied zwischen überwinternden und aktiven Bären aber bei einem spezifischen Protein, nämlich dem Hitzeschockprotein HSP47. Dieses war in den schlafenden Bären um das 55-Fache herunterreguliert.
Bei HSP47 handelt es sich um einen Rezeptor an der Oberfläche der Thrombozyten, der sowohl in der Plättchenaktivierung, als auch in der Aktivierung von Neutrophilen eine wichtige Rolle spielt. Das heißt: Ist die Expression von HSP47 gesenkt, ist auch die Interaktion von Blutplättchen und Entzündungszellen reduziert – es kommt zu weniger Thrombosen.
Nur weil das bei den pelzigen Probanden im Norden so war, muss das selbstverständlich für den Menschen nichts heißen. Aber tatsächlich konnten die Forscher in einer Gruppe querschnittsgelähmter Patienten, die langfristig immobilisiert waren, ebenfalls feststellen, dass HSP47 im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe herunterreguliert war. Einen weiteren Hinweis, dass der gleiche Mechanismus auch beim Menschen eine Rolle spielen könnte, kam aus der Raumfahrtmedizin: In einer gemeinsamen Studie vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt und der NASA hielten gesunde Probanden für 28 Tage Bettruhe ein. Ab Tag 5 bis 7 konnten die Forscher auch bei ihnen eine Abnahme des HSP47-Levels über den Studienzeitraum beobachten. Zum Ende der Studie war die Konzentration des Proteins bei den Probanden im Vergleich zur Ausgangssituation deutlich reduziert.
Auch in einer – zugegeben nicht sonderlich aussagekräftigen – Untersuchung an Schweinen konnten die Forscher den Mechanismus rekonstruieren. Stillende Schweine, die sich im ersten Monat nach der Geburt nur sehr wenig bewegen, hatten weniger HSP47 im Plasma als ihre nicht-stillenden, aktiven Artgenossen in der Kontrollgruppe. Offensichtlich unterschieden sich die beiden Gruppen nicht nur in Hinblick auf ihr Aktivitätslevel und sind daher keine perfekten Vergleichsgruppen. Aber dennoch liefert diese Untersuchung einen Hinweis darauf, dass es sich hier um einen evolutionär konservierten, artübergreifenden Mechanismus der Thromboseprävention bei Langzeit-Immobilisation handeln könnte.
Die Vermutung liegt also nahe, dass man auch bei immobilisierten Akutpatienten das Risiko für TVT senken könnte, wenn es gelingt, HSP47 zu blockieren. Im Mäuseversuch konnten die Forscher immerhin schon nachweisen, dass gentechnisch veränderte Mäuse, denen das Protein fehlte, von dem entdeckten Schutzeffekt profitierten. Wurde ihr venöser Blutfluss mechanisch eingeschränkt, wiesen die Knock-Out Mäuse weniger und kleinere Thrombosen auf als Mäuse des Wildtyps in der Kontrollgruppe. Das Ziel der Münchener Forscher ist daher nun, für den Menschen geeignete HSP47-Inhibitoren zu finden.
Bei aller Euphorie sollte aber bedacht werden: Akute Immobilität ist natürlich nur einer von vielen Risikofaktoren für eine TVT. Prof. Jeffrey Weitz, Direktor des Forschungsinstituts für Thrombose und Atherosklerose der McMaster Universität Hamilton, Kanada, ruft weiterhin in Erinnerung, dass nur etwa die Hälfte aller TVT-Fälle durch bekannte Risikofaktoren wie Immobilität, Schwangerschaft und Gefäßverletzungen provoziert werden. Gegenüber JAMA kommentiert er: „Dieser Mechanismus könnte also zu den 50 % der tiefen Venenthrombosen beitragen, die damit in Verbindung gebracht werden. Aber wie verhält es sich mit der anderen Hälfte, die einfach aus heiterem Himmel auftritt?“
Studienleiter Tobias Petzold von der LMU München ist trotzdem guter Dinge. Er hofft, dass die Entdeckung seines Teams wenigstens denjenigen Patienten helfen kann, die vorübergehend immobilisiert sind und nicht durch potente Antikoagulantien geschützt sind.
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