Lange Telomere – Leben. Kurze Telomere – Tod. Die Realität ist wie üblich komplizierter. Lest hier, warum es mit der Unsterblichkeit doch nicht so einfach ist.
Von Telomeren und dem Enzym Telomerase sind viele fasziniert. Die Entdeckung in den 80er Jahren, die 2009 mit dem Nobelpreis belohnt wurde, hat nicht nur viel Forschung angestoßen, sondern auch ein ganzes Spektrum an Metaphern produziert. Vom „Schutzpaket der Chromosomen“ bis zum „Substrat der Unsterblichkeit“ war alles dabei. Die Welt der Telomer-Metaphern ist in jedem Fall eine positive Welt: Das Telomer ist edel, hilfreich und gut.
Wer lange Telomere hat, soll länger leben – eine Korrelation, auf die sich prompt auch die Alternativmedizin stürzte. Diverse dubiose Produkte nehmen für sich in Anspruch, Telomere zu verlängern oder deren Verkürzung zu bremsen. Alles, was Telomere vorzeitig verkürzt, gilt hingegen als schlecht bis lebensgefährlich. Zuletzt war das zu beobachten bei den Diskussionen über die angeblich das Immunsystem ruinierenden Effekte wiederholter COVID-19-Infektionen. Sie wurden unter anderem mit einer Verkürzung der Telomere von Immunzellen begründet. Dass die Hersteller vermeintlich Telomer-verlängernder Alternativmedizin auf diesen Zug prompt aufsprangen und ihre Produkte als Wunderwaffen gegen Long Covid positionierten, wer mag es ihnen vergelten?
Telomere sind sich mehrfach wiederholende DNA-Sequenzen am Ende der Chromosomen. Bei Zellteilungen werden bekanntlich Kopien der Chromosomen hergestellt. Das funktioniert an den Enden der Chromosomen aber nicht ganz einhundertprozentig: Der letzte Abschnitt der Telomere kann nicht dupliziert werden, was dazu führt, dass die Telomere in den meisten Zellen mit jeder Replikation kürzer werden. Es ist diese generationsabhängige Verkürzung, die den Telomeren ihren Ruf als Altersäquivalent eingebracht hat. Irgendwann, wenn die Telomere zu kurz werden, ist Ende mit Zellteilungen. Es wird ein Mechanismus angestoßen, der weitere Mitosen verhindert, und nach einiger Zeit geht die Zelle dann in den programmierten Zelltod.
Lange Telomere – Leben. Kurze Telomere – Tod. Die Realität ist wie üblich komplizierter. Telomere interagieren mit einem Proteinkomplex, der – die Welt der Telomere ist eine positive Welt – Shelterin genannt wird. Dieser Proteinkomplex schützt die kostbaren Telomere; er verhindert, dass sie abgebaut werden oder dass sich DNA-Reparaturenzyme an ihnen zu schaffen machen. Eines der Proteine im Shelterin-Komplex ist POT1. Zusammen mit anderen Proteinen kann es einen Enzymkomplex heranlocken, der Telomerase heißt. Diese Telomerase enthält eine spezialisierte reverse Transkriptase – ein recht ungewöhnliches Enzym für einen Menschen. Sie kann Telomere verlängern und damit auf zellulärer Ebene eine gewisse Form der Unsterblichkeit verleihen. Der Organismus nutzt das bei all jenen Zellen, die nicht irgendwann aufhören sollen, sich zu teilen, nämlich bei Keimzellen und bei den Stammzellen proliferativer Gewebe wie (Schleim)Haut und Blut.
Mutationen unterschiedlicher Art können Telomere und die Telomerase beeinflussen. So gibt es einige Mutationen im Telomerase-Komplex, die mit verkürzten Telomeren einhergehen. Die entsprechenden Erkrankungen werden Short-Telomer-Syndrome genannt. Sie sind allesamt selten. Zu den bekannteren zählt die Dyskeratosis congenita, eine sehr schwere Erkrankung, die mit Knochenmarksversagen und Lungenfibrose sowie vorzeitigen Alterungserscheinungen an Haut, Nägeln und Haaren einhergeht.
In einer jetzt im New England Journal of Medicine publizierten Studie geht es gewissermaßen um das Gegenteil dieser Erkrankungsgruppe, nämlich Erkrankungen durch Mutationen, die mit längeren Telomeren einhergehen. Lange Telomere entstehen unter anderem bei einer Reihe von Mutationen im schon erwähnten POT1 Protein. Dem positiven Image langer Telomere entsprechend sollte diese Mutationen eigentlich eine gute Sache sein, quasi ein zellulärer Schalter für ein langes Leben. Doch die Wissenschaftler um Emily DeBoy und Mary Armanios von der John Hopkins University zeigen jetzt, dass das nicht stimmt. Sie können anhand von betroffenen Familien zeigen, dass POT1-Mutationsträger ein erheblich erhöhtes Risiko für eine Reihe von sowohl gutartigen als auch bösartigen Neoplasien haben, darunter B- und T-Zell-Lymphome, Blutkrebse sowie epitheliale, mesenchymale und neuronale Tumoren.
Besonders klar war der Zusammenhang zwischen POT1-Mutationen und dem so genannten CHIP-Syndrom. Zwei Drittel der POT1-Mutationsträger hatten ein CHIP-Syndrom; es fanden sich Hinweise für einen autosomal-dominanten Erbgang und eine zunehmende Penetranz mit zunehmendem Alter. CHIP steht für klonale Hämatopoese von unbestimmtem Potenzial. Dass dieses Syndrom mit deutlich erhöhtem Krebsrisiko einhergeht, ist schon länger bekannt. Die US-Studie verknüpft das CHIP-Syndrom jetzt mit den POT1-Mutationen und mit einer gebremsten bzw. aufgehobenen Telomerverkürzung und untermauert diesen Zusammenhang mit diversen Analysen.
Das Ergebnis ist ein interessanter neuer Erklärungsansatz für die Tumorneigung bei CHIP-Patienten sowie ein neuer Mechanismus für die Krebsentstehung: Der vermeintliche zelluläre Jungbrunnen einer fehlenden Telomer-Verkürzung könnte dazu führen, dass die dadurch langlebigeren Zellen (oder Zellllinien) Mutationen anhäufen, weil sie eben nicht rechtzeitig absterben. Und das wiederum erhöht dann insbesondere im längeren Lebensverlauf das Krebsrisiko. Definitiv zeigen konnten die US-Forscher das anhand der hämatopoetischen Zellen der betroffenen Menschen: Sie wiesen tatsächlich überdurchschnittlich viele somatische Mutationen auf, darunter bekannte Treibermutationen für hämatologische Neoplasien.
Die – noch unbewiesene – Hypothese ist, dass das in ähnlicher Weise auch für andere Gewebe gilt und dass dieser gemeinsame zelluläre Mechanismus der Assoziation von CHIP mit soliden Tumoren unterschiedlicher Art zugrunde liegen könnte: „Alles in allem decken unsere Daten einen Mechanismus für erbliche Krebsprädisposition auf, der sich von Mutationen in Tumorsuppressorgenen und Onkogenen unterscheidet: eine Verlängerung der zellulären Lebensspanne, die die altersabhängige klonale Evolution vorantreibt“, so das vorläufige Fazit der Wissenschaftler.
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