Die Patientin wirkt ängstlich und verschlossen, die Hausärztin denkt an eine depressive Episode. Doch in der Klinik verschlechtert sich der Zustand der Frau rapide – und lehrt uns Ärzte, immer unvoreingenommen hinzusehen.
Eine 44-jährige Patientin wurde von ihrer Hausärztin mit Verdacht auf eine depressive Episode notfallmäßig eingewiesen. Die Patientin sei zunehmend verschlossen, wirke ängstlich und labilisiert, weine vermehrt und zeige zunehmend Unruhe. Sie befand sich bereits seit einigen Jahren aufgrund einer Depression sowie einer Angsterkrankung in hausärztlicher Behandlung und wurde mit Mirtazapin in der Tagesdosis 7,5 mg behandelt. Aufgrund eines gegenwärtig regelmäßigen Alkoholkonsums von etwa einer Flasche Wein täglich bestand seitens der Hausärztin der Verdacht auf einen Alkoholmissbrauch. Somatische Erkrankungen bestanden nicht.
Fünf Tage vor Vorstellung wurde die Patientin aus einer neurologischen Abteilung bei V. a. einen erstmaligen epileptischen Anfall entlassen. Sie wurde von ihrem Ehemann nach einem lauten Schrei verwirrt im Schlafzimmer vorgefunden, es bestand eine Enuresis. Die durchgeführte neurologische Diagnostik blieb ohne richtungsweisende Befunde (cCT, cMRT, EEG, Liquor). Diagnostisch wurde ein erstmaliger unprovozierter generalisierter tonisch-klonischer Anfall beschrieben. Eine antikonvulsive Medikation wurde nicht begonnen, ein Fahrverbot von 6 Monaten wurde ausgesprochen, die Durchführung regelmäßiger ambulanter EEG-Kontrollen wurde empfohlen.
In der aktuellen klinischen Untersuchung zeigte die Patientin einen reduzierten Allgemeinzustand, mit einer HF 130/min und erhöhtem Blutdruck von 170/100 mmHg. Die Spontansprachproduktion war erheblich reduziert, die Patientin nickte lediglich auf Fragen bzw. gab Einwortantworten und imponierte mit teils labilisiert-ratloser Affektlage. Die Psychomotorik war mustistisch und angespannt, der Antrieb herabgesetzt. Es zeigten sich keine fokalneurologischen Defizite, die Patientin bewegte alle Extremitäten auf Aufforderung spontan.
Laborchemisch bestand sowohl eine leichte Leukozytose sowie minimale Leberenzymerhöhung. Bei V.a. depressiven Stupor mit DD Alkoholentzugssyndrom erfolgte die fraktionierte Gabe von Lorazepam bis 5 mg täglich.
Einige Stunden nach Aufnahme wurde die Dienstärztin vom betreuenden Pflegepersonal verständigt. Die aufgenommene Patientin zeige zunehmende psychomotorische Unruhe, reagiere nicht auf Ansprache. Die Vitalparameter zeigten sich fortwährend auffällig mit erhöhten hypertensiven RR-Werten und vermehrter Tachykardie. Die Kollegin entschied sich nach erneuter Untersuchung zur Durchführung einer kranialen Computertomographie. Die Untersuchung zeigte eine mehrzeitige rechts-parietale Lobärblutung mit Mittellinienverlagerung, woraufhin die Patientin zur neurochirurgischen Intervention verlegt wurde. Diagnostisch ist unter Berücksichtigung der Untersuchungsergebnisse von einer organischen katatonen Störung auf der Grundlage einer intrazerebralen Blutung auszugehen.
cCT-Aufnahmen: Mehrzeitige rechts-parietale Lobärblutung mit Mittellinienverlagerung. Credit: Simon Kurzhals
Anhand der Literatur ist anzunehmen, dass bei bis zu 10 % der von psychiatrischen Symptomen betroffenen Personen keine hinreichende organmedizinische Ursachenabklärung erfolgt. Gerade im Bereich der notfallmäßigen Behandlung sind die Ressourcen zum Einsatz diagnostischer Mittel oftmals beschränkt, zudem ist – je nach Untersuchungsmethode – die Mitarbeit von Patienten bei Untersuchungen erforderlich. Hier kann gerade bei Vorliegen psychiatrischer, jedoch auch anderweitiger Erkrankungen, eine besondere Schwierigkeit bestehen.
Die Genese organischer psychischer Störungen ist jedoch vielfältig. So können neben metabolischen, endokrinologischen, infektiologischen oder inflammatorischen auch substanzinduzierte Störungen ursächlich für psychiatrische Symptome und Syndrome sein. Neben verschiedenen organischen Pathologien ist nahliegend, dass hirnorganische Prozesse wie intrazerebrale Blutungen, Ischämien oder Raumforderungen ebenfalls in psychiatrischen Auffälligkeiten resultieren können. Letztlich sollte im klinischen Kontext immer berücksichtigt werden, dass eine organische Ursache jegliche psychiatrische Syndromatologie entwickeln kann.
Die therapeutische Konsequenz der differierenden Ursachen kann mitunter erheblich sein – es ist beispielsweise ein deutlicher Unterschied, ob lediglich eine Elektrolytstörung ausgeglichen oder im Zweifel eine zwangsweise Behandlung bei fehlender Behandlungsbereitschaft erfolgen muss. Es besteht also in jedem Fall die Notwendigkeit einer hinreichenden organmedizinischen Ausschlussdiagnostik. Jeder Fall und jeder Patient sind letztlich individuell, sodass selbst kürzlich erfolgte Untersuchungsergebnisse immer mit Vorsicht berücksichtigt werden sollten. Im geschilderte Fall hat schließlich die sich stetig verschlechternde Klinik der Patientin den Anstoß zu einer erneuten Durchführung diagnostischer Maßnahmen gegeben.
Zusammenfassend liegen auf klinischer Entscheidungsebene bei dem dargestellten Fall gleich zwei Problembereiche: Erstens, die Annahme, dass die Symptomatik auf die bereits vorbestehende depressive Störung sowie Angststörung zurückgeführt wurde und zweitens, dass die kürzlich durchgeführte diagnostische Abklärung diese Annahme noch zu bestätigen schien.
Welche Pathologie der intrazerebralen Blutung der Patientin letztlich zugrunde lag, war nach Verlegung zur Weiterbehandlung nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Eine Hypothese war eine venöse Stauungsblutung im Rahmen einer Sinusvenenthrombose. Eine SVT hätte zumindest einen zuvor aufgetretenen epileptischen Anfall erklären können, je nach Modalität hätten bildmorphologische Anzeichen nicht unbedingt in der cMRT auftauchen müssen.
Bildquelle: Pat Moin, Unsplash