Habt ihr schon von den kryptischen Corona-Varianten gehört? Ihre Spur führt in die Kanalisation. Erfahrt hier, was immunsupprimierte Dauerausscheider damit zu tun haben.
Im Zuge der Covid-Pandemie ist eine nicht neue, aber bis dahin wenig genutzte Methode zur Überwachung der Infektionslage in definierten Regionen stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt, nämlich das Abwassermonitoring. In Deutschland hat sich unter anderem eine Arbeitsgruppe des Berliner Max Delbrück Centrums (MDC) des Themas angenommen. In einer im Herbst 2022 vorgelegten Publikation stellten die Berliner am Beispiel der Delta- und Omikron-Wellen detailliert dar, wie sich mit Hilfe von Abwasserproben die Evolution der Virusvarianten und regionale Unterschiede bei der Pandemiedynamik nachvollziehen lassen.
Abbildung 1: Die covid-Pandemie in Berlin aus Sicht der Berliner Abwasserleitungen. Blau: die Delta-Variante, grün: die Omikron-Varianten. Credit: Schuhmann V-F et al.
Auch in den USA wird diese Methode genutzt und ihre Anwendungsbereiche werden weiter erforscht. Die Stadt New York hat schon früh in der Pandemie systematisches Abwassermonitoring betrieben. Großes Interesse an dem Thema hat außerdem eine Gruppe um Prof. Marc Johnson, molekularer Virologe am Bond Life Sciences Center der Universität von Missouri. Johnson interessiert sich weniger für den Einsatz des Abwassermonitorings zur Abschätzung von Varianteninzidenzen als viel mehr dafür, mit Hilfe dieser Methodik seltene SARS-CoV-2-Varianten aufzuspüren und diese zu verfolgen.
Seltene oder kryptische SARS-CoV-2-Varianten („cryptic lineages“) sind SARS-CoV-2-Varianten, die in Abwasser entdeckt werden und bei denen unklar ist, wo sie herkommen. Kryptische Varianten sind jeweils ziemlich einzigartig – und sie liegen in den Variantenstammbäumen teils recht weit entfernt von ihren sehr viel häufigeren „Ahnen“. Sie haben typischerweise eine große Zahl an Mutationen im Spikeprotein, und bei vielen dieser Mutationen wissen die Wissenschaftler nicht, was sie bedeuten bzw. welche Funktion sie haben. Wie das visuell in den bekannten Variantenstammbäumen aussieht, hat Johnson aktuell anhand einer in Ohio identifizierten, kryptischen SARS-CoV-2-Variante illustriert. Sie stammt von Omikron B.1.1 ab und hat bis dato 94 genetische Veränderungen durchlaufen.
Abbildung 2: Die kryptische Ohio-Variante von SARS-CoV-2 ist weit weg von B.1.1 und ziemlich allein auf weiter Variantenflur Credit: Tweet vom 23. April 2023Kryptische Varianten wurden teilweise als Viruslinien interpretiert, die in Tieren oder Mikroorganismen quasi vor sich hin vegetieren, dort sukzessive mutieren und auf welchem Weg auch immer dann im Abwasser nachweisbar werden. Johnson ist sich mittlerweile ziemlich sicher, dass diese Hypothese falsch ist: „Ich bin überzeugt, dass kryptische Linien von Menschen kommen.“
Konkret glaubt Johnson, dass die „Quelle“ der kryptischen SARS-CoV-2-Linien im Abwasser immunsupprimierte Menschen sind, die eine chronische SARS-CoV-2-Infektion aufweisen und das Virus über wahrscheinlich – wir sind im Abwasseruniversum – den Darm ausscheiden. Solche chronischen Ausscheider, die oft gar nicht klinisch krank sind, kamen nicht erst mit Covid in die Welt. „Shedder“, wie sie auch genannt werden, gibt es bei diversen Keimen. Vor allem Ärzte, die Transplantationspatienten versorgen, kennen das Phänomen.
Wie kamen Johnson und Team auf ihre Menschen-Hypothese? Die Arbeit hatte bisweilen kriminologische Züge, wie die Forscher in einem Preprint schildern, den sie kürzlich publiziert haben. Alles begann mit einem zentralen Kanalisationsbecken, das pro Tag in etwa so viel Abwasser auffing wie 30 olympische Schwimmbecken. Daraus wurde über den Tag verteilt insgesamt eine Vierteltasse Abwasser entnommen und analysiert. Es fand sich, neben den zu erwartenden Varianten, auch eine kryptische Variante, die komplett unbekannt war. Mehrere Monate lang haben sich die Wissenschaftler dann quasi die Kanalisation bergauf gearbeitet, bis hin zu den Abwasserrohren einzelner Dörfer und Straßenzüge, einzelner Gebäude.
Abbildung 3: Auf der Suche nach einer kryptischen Variante arbeiteten sich die Wissenschaftler von einem Kläranlagebecken bis zu einigen wenigen Badezimmern hoch. Credit: Tweet vom 1. November 2022
Am Ende sei es gelungen, die Quelle auf einige wenige Badezimmer in einem bestimmten Gebäude einzugrenzen, so Johnson, und je näher die Wissenschaftler der Quelle kamen, desto höher wurde auch die Viruskonzentration. Diese Ergebnisse, die der Publikation im letzten Herbst zugrunde lagen, machten eine menschliche Quelle der kryptischen Varianten schon recht wahrscheinlich. Noch stärkere Indizien liefert jetzt die eingangs erwähnte Ohio-Variante.
Denn die wurde zu mehreren Zeitpunkten über einen Zeitraum von größer einem halben Jahr an zwei Stellen gefunden, und nur an zweien: Im Abwasser der Kleinstadt Washington Court House auf halber Strecke zwischen den Städten Dayton und Columbus, Ohio. Und in einem Abwasserrohr im Norden der 70 km entfernten Stadt Columbus. Johnson erklärt sich das so, dass es einen Menschen geben muss, der diese spezielle, einzigartige Virusvariante in großen Mengen über den Stuhl ausscheidet und der in Washington Court House wohnt und nach Columbus zur Arbeit pendelt oder umgekehrt.
Ohio ist keine Ausnahme. Johnson hat seine Analysen über Ohio hinaus ausgedehnt und diverse kryptische Varianten in mittlerweile zehn US-Bundesstaaten gefunden: „Ich glaube, das ist nur die Spitze des Eisbergs.“ Keine dieser Varianten gleicht der anderen, keine ist über den jeweiligen Fundort hinaus bisher nennenswert in Erscheinung getreten. Weisen all diese kryptischen Varianten auf Dauerausscheider hin, die monatelang unerkannt infiziert sind und dabei sukzessive Mutationen anhäufen, mit dann hoch individuellen Mutationsmustern?
Abschließend bewiesen ist das noch nicht, aber es ist eine plausible Hypothese. Tatsächlich wurde schon relativ früh in der Pandemie gezeigt, dass in längerfristig infizierten, immunsupprimierten Covid-Patienten Virusevolution stattfindet und dass sich die Richtung dieser Evolution durch Therapien, die den Selektionsdruck erhöhen oder ändern, etwa Rekonvaleszentenplasma, beeinflussen lässt. Ob neue, epidemiologisch „erfolgreiche“ Varianten auch oder sogar im Regelfall auf diesem Weg entstehen, ist umstritten.
Relativ klar scheint, dass die von Johnson und Kollegen identifizierten, kryptischen Varianten kein unmittelbares Public Health Problem darstellen. Sie breiten sich ganz offensichtlich nicht in der Bevölkerung aus, und aus Abwasser isoliertes SARS-CoV-2 sei aus unklaren Gründen auch nicht infektiös, so der Wissenschaftler. Denkbar wäre, zu versuchen, die entsprechenden Personen nicht nur ungefähr zu lokalisieren, sondern sie tatsächlich zu identifizieren. Dann könnte ihnen zum Beispiel ein Therapierversuch angeboten werden mit dem Ziel, das Shedding zu beenden. Da allerdings würden sich dann zahlreiche datenschutzrechtliche und – insbesondere bei asymptomatischen Betroffenen – auch ärztlich-ethische Fragen stellen. Nichts, was im Rahmen solcher Forschungsprojekte beantwortet werden könnte.
Bildquelle: Gabor Monori, unsplash